19. November 2024
Neue Wege für die Markuskirche
Eines Abends klebt an der Tür meines Wohnhauses ein Zettel: Es ist eine Einladung zur Eröffnung des «Aua wir leben»-Theaterfestivals – in der Markuskirche!
Liam Collins
Interreligiöse Studien, 1. Semester
Meine Neugier ist geweckt, ich betrete die Kirche zum ersten Mal und bin sofort begeistert vom Raumgefühl. Es ist ein hoher Saal, in farbiges Licht getauchte gemütliche Sitzecken laden zum Verweilen ein und in der Mitte ist eine Bar aufgebaut. Ich habe so etwas noch nie gesehen: ein Festivalgelände in einer Kirche. Das irritiert, aber gleichzeitig macht es Sinn: Eine Kirche ist ein Raum für das Quartier, und hier findet eine Kulturveranstaltung statt.
Abbildung 1: Eröffnung des Theaterfestivals «Aua wir leben!» im Mai 2024, Bild: Liam Collins.
Nach dem Besuch stellen sich Fragen: Warum wird dieser Kirchenraum als Kulturort genutzt? Was hat dazu geführt? Welche Bedeutung hat die Markuskirche? Welche Gemeinde steht hinter der Zwischennutzung und mit welchem Ziel? Existiert sie überhaupt noch?
Ich vereinbare ein Gespräch mit Martin Ferrazzini, Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Johannes. Zusammen mit seiner Kollegin, Pfarrerin Sonja Gerber, hat er eine Party mit Gottesdienst in der Markuskirche veranstaltet.
Das Projekt
Es gibt ein langfristiges Projekt für die Markuskirche, und die Zwischennutzung ist das Intermezzo, bevor es losgeht mit dem Umbau der Kirche zum neuen Kirchenzentrum im Nordquartier, es soll zur Heimat der beiden heutigen Nachbargemeinden Markus und Johannes werden, die dann gemeinsam die reformierte Kirchgemeinde Bern Nord bilden werden.
Im Buch Gastliche Kirche wird mit dem Modell Generationenkirche aufgezeigt, wie sich Kirchgemeinden weiterentwickeln können. Es ist ein inklusiver Ansatz in dem auf darauf eingegangen wird, dass die Welt in Bewegung ist und es Mut braucht, um neue Visionen zu entwickeln.
Mut
Mit Pfarrer Ferrazzini komme ich auch auf das Thema Mut zu sprechen, denn seine Gemeinde hat es gewagt: Im Sommer wird an der Gemeindeversammlung über die Fusion mit der benachbarten Kirchgemeinde Markus abgestimmt. Seit längerem arbeiten die beiden Gemeinden des Nordquartiers eng zusammen, seit Sommer 2023 sogar unter dem gleichen Dach: im Gemeindehaus Johannes. Wenig später begann die Zwischennutzung der Markuskirche mit dem Gastronomieprojekt ‹Zur Markuskirche›.
Die beiden Gemeinden sind in der Praxis schon weit vorangeschritten mit einem Prozess, der auch gesamtkirchlich folgen könnte: Im Jahr 2025 wird in Bern abgestimmt über die Fusion der zwölf ev. ref. Kirchgemeinden und der Gesamtkirchgemeinde zu einer grossen Gemeinde. Dies wäre effizienter und die Verwaltungskosten liessen sich senken, und das ist nötig, denn der Mitgliederschwund hält an in der Landeskirche:
In der evangelisch-reformierten Kirche ist der Anteil der Mitglieder an der Wohnbevölkerung innerhalb von 50 Jahren von 48,8% (1970) auf 20,5% (2022) zurückgegangen. Gleichzeitig stieg der Anteil der Konfessionslosen von 1.2% (1970) auf 33.5% (2022).
Das ist eine Entwicklung, die kluge Entscheidungen darüber fordert, wie die nötige Redimensionierung der Gemeinden und der Infrastruktur möglichst nachhaltig umgesetzt werden kann. Dazu finden seit 15 Jahren Gespräche zwischen den Kirchgemeinden statt: der Strukturdialog.
Motivation
Mit Martin Ferrazzini spreche ich über die Entwicklung, die für beide Gemeinden im Strukturdialog begann:
Liam Collins (L): Was hat den Prozess ausgelöst, dass Ihr jetzt zusammen eine Gemeinde haben werdet?
Martin Ferrazzini (M): […] Zum einen gibt es auf der gesamtkirchlichen Ebene der Stadt Bern seit 15 Jahren den Strukturdialog, […] Es [war uns] klar: wenn fusioniert wird, dann gibt es Kreise, von denen Bern Nord zum Beispiel einer ist: ‹Markus› und ‹Johannes›. Weil da lange nichts passiert ist, haben wir [uns gesagt]: «komm wir wollen es einfach trotzdem machen, egal was die Gesamtkirchgemeinde macht». Wir wollen […] fusionieren, weil es willkürliche Grenzen im Quartier hat, die längerfristig keinen Sinn mehr machen. Das hatte mit dem Wachstum der Stadt zu tun. In den 50ern wurde [zusätzlich zur Johanneskirche] die Markuskirche eröffnet, aber [den Platz] braucht es heute nicht mehr. Jedes Reformierte ‹Füdle› könnte fast zweimal auf einer Bank hocken. Das ist eine Tendenz die berücksichtigt werden muss und das hat in die Überlegung reingespielt.
L: Ist das auch die Motivation gewesen um enger miteinander zusammenzuarbeiten?
M: Da bin ich zu wenig dabei gewesen. Ich glaube die Motivation war vor allem in dem bewussten ‹etwas machen›, das wir selbst gestalten können. Wir sind proaktiv geworden, bevor wir aus Zwang etwas tun müssen. Und das merken wir auch; es hat wirklich extrem viel Energie freigesetzt; ich glaube im Raum Bern sind wir wahrscheinlich die innovativsten Kirchgemeinden, was Angebot und Denken anbelangt. […] Wir sind proaktiv!
So können die beiden Gemeinden Synergien nutzen, gemeinsam Ideen wälzen und –es sind doppelt so viele Leute im Haus, und «das macht etwas aus», wie Martin Ferrazzini betont. «Ich würde sagen es ist ein guter Geist im Haus, eine gute Dynamik.» Der Tatendrang wird durch die Kirchgemeinderäte unterstützt. Es werden Gelder gesprochen für gemeinsame Projekte und es dürfen neue Dinge ausprobiert werden: «Wir haben nicht nur einen bewahrenden Geist, sondern auch einen, der wirklich gross in die Weite denken kann.»
Experimente
Abbildung 2: Flyer der Gemeinden Markus und Johannes, Bild: Liam Collins.
So sind diverse experimentelle Anlässe entstanden: Im Bistro Johannes findet regelmässig das àpoint statt, eine abendliche Annäherung an biblische Texte mit Elementen aus dem Improvisationstheater. In der Markuskirche fand das Tanzmahl statt, ein experimenteller Anlass mit live Elektromusik vom Produzenten Audiomolekül, biblischer Lesung und der Feier des Abendmahls – mit Tapas und alkoholfreiem Sekt! Der Anlass stiess auf reges Interesse: Es kamen 150 Leute, teilweise sogar aus der Ostschweiz. Die jüngste Teilnehmerin war 15 jährig und kam mit ihren Eltern, der Älteste war 88 jährig. Es kamen Leute aus der Kirchgemeinde, aus der Stadt und auch spontan Passant:innen. Der Anlass hatte eine gute Medienpräsenz, über Instagram, Flyer im Quartier, und Mund zu Mund wurden viele Menschen erreicht.
Zusammen mit den Zwischennutzungsprojekten trägt das zum offenen Charakter der Markuskirche bei. Vielen Leuten ist die Kirche ein Begriff, sogar eine Freundin von mir, die in Basel lebt, hatte per Zufall von der Markuskirche und dem Restaurant gehört.
Die Rolle der Markuskirche
L: Was für eine Rolle nimmt die Markuskirche als experimenteller Raum ein?
M: Ich würde sagen eine extrem wichtige Rolle. […] Die Markuskirche schafft mit dieser Zwischennutzung [etwas]: Die Leute sind wiedermal in einer Kirche gewesen! Mensch hat sich irgendwie auf den Raum eingelassen. Du hast auch mit dem Raum angefangen, der Raum hat dich irgendwie fasziniert. Die Markuskirche kann Zugang ermöglichen: […] weils irgendwie schon ‹Kirche› ist, aber irgendwie auch ‹chli anderst›.
Zum Beispiel das Abendmahl, was wir hier gefeiert haben, traditionellerweise gibt es entweder Traubensaft oder Wein und dazu Brot. Und wir hatten Perldor, das ist der Migros-Rimus, statt Traubensaft und wir hatten Tapas anstatt einfach Brot. (lacht) Und es gab natürlich theologische Diskussionen deswegen, weil; «ja, in der Kirchenordnung steht es muss wirklich Brot sein und so», und «ja natürlich muss es Brot sein, aber irgendwie gehts doch mehr darum, dass Menschen miteinander im gleichen Moment im gleichen Sinn und Geist etwas teilen.» […]
«Ich glaube, die Markuskirche als Projekt kann Zugänge ermöglichen für Leute, die sonst überhaupt keine Zugänge mehr hätten, darum würde ich sagen, es ist nicht zu unterschätzen welche Rolle die Markuskirche in der grösseren kirchlichen Landschaft spielt, und es strahlt auch aus.»
Diese Entwicklung inspiriert und sorgt für Gesprächsstoff. Ferrazzini erzählt vom Aktiv-Sein in sozialen Medien und vielen Pfarrkolleg:innen, die ihn ansprechen auf die Markuskirche. An einer Weiterbildung in Holland zum Thema pioneer places, erzählte er Kolleg:innen aus der Gemeinde Männedorf am Zürichsee von dem Projekt. Es stellte sich heraus das sie ebenfalls ein Kirchenprojekt umsetzen wollen. Aus dem Austausch hat sich ein baldiger Besuch in Bern ergeben.
Gesellschaft und Gastlichkeit
In den Gemeinden Johannes und Markus wird geforscht: Wie können Orte und Veranstaltungen gastlich sein? Wie können Menschen auch jenseits von Religionszugehörigkeiten angesprochen und einbezogen werden? Auf welche Arten findet die Spiritualität ihren Platz?
Eine praktische Möglichkeit Gastlichkeit zu leben wird im Modell Generationenkirche anhand der niederschwelligen Drehscheibe vorgeschlagen; Die Kirchgemeinde wird dabei zu einem offenen Begegnungsort, ohne Erwartungen zu vermitteln: «Eine Eintrittspforte, wo man ohne Hemmungen und Schwelle reinstolpert und Türen in verschiedene Richtungen aufgehen.[…]» Das hört sich im ersten Augenblick einfach an, es ist jedoch entscheidend sich genug Zeit zu nehmen für das Erproben von neuen Dingen in kleineren Segmenten, denn dabei können ohne grosses Risiko wertvolle Erfahrungen gemacht werden: «So merkt man, worauf es ankommt, und entdeckt Dinge, die man sonst nicht beachtet hätte.» (Cottier, Zogg Hohn, 2022)
Mit der Markuskirche steht ein experimenteller Raum zur Verfügung, der die Kraft hat, neu zu definieren, was in einer Kirche und um diese herum passieren kann und auch wer angesprochen wird. An der Schnittstelle von Kirche und säkulärer Lebenswelt findet ein fruchtbarer Austausch statt. Die Markuskirche fungiert so als eine Art Brücke nach ‹aussen›. Für die Gemeinden Johannes und Markus ist sie ein Zukunftssymbol und Anregung zugleich: In was für einer Kirche möchten wir leben? Wie sieht die Kirche der Zukunft aus im Nordquartier?
Es bleibt spannend rund um die Markuskirche: Wie wird sie sich entwickeln? Welche Menschen werden hier ihre Zeit verbringen? Und wenn die Gemeinden es ins neue Kirchenzentrum geschafft haben: Was werden dann die Wünsche, Hoffnungen und gelebten Freuden sein, die zu nächsten Schritten motivieren?
Zur Vertiefung
Über den Mitgliederschwund in den Landeskirchen
Infowebseite zum Bauprojekt Kirchenzentrum
Literatur
Zogg Hohn, Lisbeth; Cottier, Danielle: Gastliche Kirche. Handbuch zur Gemeindeentwicklung mit dem Modell Generationenkirche, Zürich 2022.
Stückelberger, Johannes: Erweiterte Nutzung kirchlicher Gebäude – Praxishilfe, Bern 2019.
Stolz, Jörg: Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen, Zürich 2010.