23. JUNI 2023
Die Wichtigkeit von Essen für das kollektive Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft IKRE in Bern
Alle Menschen müssen Essen. Aber neben der reinen Nahrungsaufnahme, kann Essen auch eine wichtige Rolle spielen beim Festigen des Selbstverständnisses von religiösen und kulturellen Minderheiten, wie beispielsweise der Islamischen Gemeinschaft in Bern, dem IKRE.
Shea Hirsch (sie/ihr) – Bachelor Interreligiöse Studien und Philosophie (2. Semester), Bern
Bern ist eine christlich evangelisch geprägte Stadt. Das Stadtbild ist dominiert von grossen Kirchen, wie beispielsweise der Heiliggeistkirche oder dem Münster. Die Läden und ihre Schaufenster sind um Weihnachten herum voll von Weihnachtsgeschenken, Weihnachtsschmuck und christlichen Symbolen. Dasselbe sehen wir auch um Ostern herum. Aber neben der gut sichtbaren, christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft gibt es relativ viele weitere kleinere Religionsgemeinschaften. Dies sind Gemeinschaften, die häufig Migrationshintergründe und somit andere kulturelle Grundlagen haben. In diesem Blog Beitrag beschäftige ich mich mit der These, dass für diese kleinen Religionsgemeinschaften traditionelles Essen aus der eigenen Kultur einen wichtigen Stellenwert hat, für das Selbstverständnis und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe. Ich diskutiere diese These am Beispiel des IKRE, einer Islamischen Gemeinschaft in Bern.
Ich denke, dass es für das Zusammenleben in der Gesellschaft in Bern, die immer wie multikultureller wird wichtig ist, gegenseitiges Verständnis füreinander zu fördern. Dazu gehört für mich auch, sich der Wichtigkeit von scheinbar banalen aber möglicherweise sehr massgeblichen Dingen wie dem täglichen Essen bewusst zu werden.
Daraus ergibt sich meine Leitfrage: Welchen Stellenwert hat das traditionelle Essen für das Selbstverständnis der Mitglieder der Religionsgemeinschaft IKRE in der evangelisch geprägten Gesellschaft in Bern? Ich versuche diese Frage zu beantworten, auf Basis meiner eigenen Beobachtungen und dem Austausch mit dem stellvertretenden Generalsekretär des IKRE.
Mein eigener Bezug
Ich bin in einer sehr säkularen Familie in der Nähe von Bern aufgewachsen. Ich hatte als Kind nie den Eindruck, dass Essen etwas ist, wodurch ich mich von anderen abgrenzen würde, oder was für mein Selbstverständnis eine grosse Rolle spielen würde. Es gab jedoch einige Traditionen, die für mich bis heute sehr wichtig sind und die ich heute selbst so weiterführe. Ich frage mich, ob das traditionelle Essen, mit dem ich aufgewachsen bin, eine andere Rolle spielen würde, wenn ich nicht der kulturellen Mehrheitsgesellschaft in Bern angehören würde. Würde ich unser traditionelles Essen mehr schätzen können, wenn ich auswandern würde, oder würde ich es vernachlässigen und mir die Gewohnheiten der dortigen Mehrheitsgesellschaft aneignen? Ich kann diese Fragen für mich nicht beantworten. Aber ich kann Angehörige einer Minderheit dazu befragen, welche Wichtigkeit ihre traditionellen Gerichte für ihr Selbstverständnis hat.
Beobachtungen und Austausch mit dem IKRE
Die Versammlungsräumlichkeiten des IKRE, der Islamischen Gemeinschaft in Bern, sind folgendermassen aufgebaut. Man steigt die Treppe eines Industriegebäudes hinauf und gelangt zum Eingang des Versammlungszentrums des IKRE in Bümpliz. Hier werden Schuhe ausgezogen und auf Socken eingetreten. Beim Eintreten gelangt man direkt ins Bistro. Dies ist der Raum, an dem gegessen wird. Es scheint jedoch auch ein Ort zu sein, in dem man sich trifft und zusammensitzt. Um in den Bereich der Wasch- und Gebetsräume, sowie der Bibliothek zu gelangen muss man also in der Regel das Bistro durchqueren. Der Raum, in dem gegessen wird, ist der Mittelpunkt der Versammlungsräume.
In diesem Bistro wird eine Auswahl an traditionellen albanischen und türkischen Gerichten angeboten, sowie Fastfood Gerichte wie Pizza, Pommes Frites und Hamburger. Im Alltag scheint es für das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe kaum eine Rolle zu spielen, was gegessen wird. Wichtig ist der Raum in dem gegessen wird als Ort der Zusammenkunft.
Der Stellvertretende Generalsekretär des IKRE meint dazu, dass die Wichtigkeit der traditionellen Gerichte von Generation zu Generation abnimmt. Dem traditionellen Essen wird besonders von der ersten Generation der in Bern Niedergelassenen eine grosse Wichtigkeit zugeschrieben. Das Essen gibt ihnen ein Stück der eigenen Heimat. Sie sind mit den traditionellen albanischen und türkischen Gerichten, wie Cevapcici, Gulascheintöpfen oder Pite, also mit Spinat oder Hackfleisch gefüllte Teigkuchen, aufgewachsen.
Die Beliebtheit dieser traditionellen Gerichte nimmt jedoch immer wie mehr ab. Die Mitglieder der Gemeinschaft aus zweiter und dritter Generation, die in Bern aufgewachsen sind und dadurch auch von dieser Kultur massgeblich geprägt wurden, sehen die Speisen ihrer Eltern und Grosseltern häufig als etwas besonderes an, jedoch nicht als etwas, was ihnen in ihrem Alltag Halt gibt oder was ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft fördert. Aus diesem Grund ist es auch wichtig, dass es beispielsweise im Bistro der Gemeinschaft beides gibt. Traditionelles Essen sowie Fastfood. Dadurch haben die Mitglieder die Wahl, wonach ihnen nun gerade der Sinn steht.
Der stellvertretende Generalsekretär des IKRE sieht die Herausforderung darin, eine gute Balance zu finden. Es ist wichtig für die Integration in der Mehrheitsgesellschaft, dass die Angehörigen der Religionsgemeinschaft mit den schweizerischen und mediterranen Gerichten vertraut sind. Gleichzeitig, gehört es auch dazu, die eigenen Wurzeln nicht zu verlieren und daher die eigenen traditionellen Gerichte zu kennen. Das Ziel besteht für ihn darin, die Vielfalt an kulinarischen Traditionen und Kulturen in Bern zu vereinen und daher ist es wichtig, dass auch die albanische und türkische Küche nicht zu kurz kommen. Inwiefern dies jedoch von den künftigen Generationen weitergetragen wird sei fraglich.
Die traditionellen Gerichte haben jedoch wirklich für alle Mitglieder der Gemeinschaft einen sehr hohen Stellenwert und festigen das Selbstverständnis als Teil der Gemeinschaft an den Feiertagen. Dahingehend am wichtigsten ist der Fastenmonat Ramadan. Im Ramadan wird zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gefastet. Nach Sonnenuntergang trifft man sich dann innerhalb der Familie oder mit Freund_innen, um gemeinsam das Fasten zu brechen. Dann gibt es viele traditionelle Gerichte, die es teilweise nur zu Ramadan gibt. Das Feiern in der Familie stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Selbstverständnis. Das Fasten über den ganzen Tag, während die Menschen um einen herum nicht fasten, zeigt die Abgrenzung gegenüber der christlichen Mehrheitsgesellschaft und anderen Religionsgemeinschaften auf. Auch dies führt dazu, dass das Selbstverständnis gestärkt wird.
Abbildung 1: Auswahl an traditionellen Lebensmitteln, die am Ramadan gegessen werden
Schlussfolgerung
Aus meinen Beobachtungen und dem Austausch mit dem stellvertretenden Generalsekretär des IKRE schliesse ich, dass das traditionelle Essen an sich tatsächlich einen weniger grossen Stellenwert besitzt als ich zunächst vermutet habe. Für die Angehörigen der ersten Generation von Einwanderer_innen ist das traditionelle Essen aus dem Heimatland sehr wichtig. Es macht es möglich, einen Teil der eigenen Kultur mitzubringen in das neue Zuhause. Bei den Angehörigen der zweiten und dritten Generation nimmt das Interesse an den der traditionellen albanischen und türkischen Küche immer wie mehr ab. Das Aufwachsen in der Schweiz und das hiesige Umfeld sind genau so sehr ein Teil des eigenen Selbstverständnisses, wie die eigenen Wurzeln und die Kultur der Eltern und Grosseltern.
Die Herausforderung besteht darin beides miteinander zu verbinden, indem die albanische und türkische Küche, genauso wie die traditionelle Küche aus ganz vielen anderen Kulturen in Bern etabliert wird.
Das Selbstverständnis, Teil einer Religionsgemeinschaft zu sein, kommt nicht nur daher, wer was isst, sondern primär daraus, dass man gemeinsam isst, sich trifft und religiöse Feierlichkeiten abhält. Das Bistro in den Versammlungsräumen des IKRE ist sehr wichtig für die Gemeinschaft des IKRE. Die Speisen die dort angeboten werden, passen sich jedoch den individuellen Präferenzen der Mitglieder an.
Abbildung 2: Ein weiterer massgeblicher Grundstein der Gemeinschaft IKRE ist das Gebet.
Zur Vertiefung
Herausforderung Ramadan, SRF-Dokumentation
Literatur
Das Minarett im (politischen) Kreuzfeuer: Rechtliche Überlegungen anlässlich der Einreichung der „Minarettinitiative“, Alexander Schaer, 2008.
Understanding islamic architecture, Attilo Petruccioli; Khalil K. Pirani, 2013.
Islamische Tradition oder autochthones Erbe? Anmerkungen zum Moscheenturm in Westafrika, Dorothee Gruner, 1989.
Bildquelle Abbildung 1: https://as1.ftcdn.net/v2/jpg/03/95/59/10/1000_F_395591002_OUa4ghCPrQBxAQrgTObsS3DF5vlLHYxV.jpg
Bildquelle Abbildung 2: https:/as2.ftcdn.net/v2/jpg/00/04/43/33/1000_F_4433325_qiXAIRVQzJPTDEaFHh8eRaI4A2WhCJ2t.jpg