23. JUNI 2023
Islam ohne Minarett?
Die islamische Gemeinschaft „IKRE“ und der Umgang mit dem Minarettverbot
Argjent Arifi (er/ihm) – Bachelor Geschichte & Interreligiöse Studien, Bern
Die Schweiz und die Minarettinitiative
Die Anzahl der Minarette in der Schweiz ist überschaubar. Bis 2009 wurden lediglich vier Baugesuche angenommen und umgesetzt. Ende November 2009 wurde die kontrovers diskutierte Minarettinitiative von 57% der Bevölkerung angenommen, was dazu führte, dass der Bau von neuen Minaretten schweizweit verboten wurde. Von der entsprechenden Initiative ist auch die islamische Gemeinschaft «IKRE» betroffen, welche sich im Stadtteil Bümpliz-Oberbottigen in Bern befindet und deren Mitglieder mehrheitlich albanischen Ursprungs sind. Hierbei handelt es sich um Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und den Kosovo. In einem Interview mit dem Bund berichtete der ehemalige Präsident der islamischen Gesellschaft, dass er von der Annahme der Initiative nicht erfreut sei, die Gesetzesgrundlage jedoch akzeptieren würde. Er selbst und ebenfalls andere Mitglieder der Moschee vertraten die Ansicht, dass mit dem entsprechenden Verbot die kulturelle Vielfalt eingeschränkt und der interreligiöse Dialog gestört wurde. Diesbezüglich verwiesen sie auf den Bau von katholischen Kirchen im Kosovo, obwohl die grosse Mehrheit der kosovarischen Bevölkerung islamisch geprägt ist.
In Bezug darauf ergibt sich die Frage, ob das Vorhandensein eines Minaretts für die Praktizierung des Islam notwendig ist. In den folgenden Abschnitten wird die allgemeine Funktion des Minaretts thematisiert und die Frage beantwortet, was das Verbot für die Praktizierung der Religion innerhalb der islamischen Gemeinschaft «IKRE» bedeutet.
Aufbau und Funktion eines Minaretts
Um die konkrete Funktion der Minarette zu erläutern, muss ein Blick auf die Anfangszeit des Islams geworfen werden. Die ersten Moscheen zu Lebzeiten Mohammeds besassen eine schlichte Form, wobei weder Kuppel noch Minarette vorhanden waren. Minarette wurden erst Jahrhunderte später hinzugefügt. In einer Zeit ohne technologische Mittel und erschwerten Koordinierungsmöglichkeiten haben sich hochstehenden Minarette als eine vorzügliche Möglichkeit für muslimische Leute erwiesen, um sich an der Lage der Moscheen orientieren zu können. Hinzu kommt, dass der Gebetsruf an der Spitze des Minaretts von den Gebetsrufenden (Muezzins) durchgeführt wird. Zu Beginn haben die Gebetsrufe noch auf den Dächern der Moscheen stattgefunden. Der Gebetsruf hat die Absicht, die Gläubigen fünfmal täglich zum Gebet einzuladen.
Über mehrere Jahrhunderte hinweg hat sich das Minarett zu einem prägenden Merkmal der Moschee etabliert und ist auch heutzutage ein fester Bestandteil von mehreren Millionen islamischen Gebetsorten weltweit. Bei den Minaretten handelt es sich grundsätzlich um schmale und hohe Türme, die sich an oder neben einer Moschee befinden. Die Grösse und Form eines Minaretts können je nach Moschee variieren. Das Minarett der Moschee in Wangen bei Olten beispielsweise beträgt eine Höhe von 6 Metern, während das Minarett der Hassan II. Moschee in Casablanca 210 Meter misst. Die meisten Türme besitzen entweder eine rundliche oder quadratische Form.
Abbildung 1: Minarett der Koutoubia-Moschee in Marrakesch (Bild: Daniel Csörföly)
„IKRE“
Der islamischen Gemeinschaft «IKRE» steht für die täglichen Gebete keine traditionelle Moschee, sondern mehrere Räume zur Verfügung, welche für die Praktizierung ihrer Religion genutzt werden. Die Räumlichkeiten wurden hierbei nicht vom Staat, sondern von den eigenen Mitgliedern finanziert, welche die Lokalitäten 2007 kauften und zum gemeinsamen Eigentum machen konnten. Neben den getrennten Gebetsräumen für Männer und Frauen, befindet sich am Eingang ein grösseres Zimmer mit Büchern, Verpflegungsmöglichkeiten, Tischen, Stühlen und Sofas, welches für das Beisammensein der Gemeinschaft und den gegenseitigen Austausch verwendet werden kann. Nebst einem Bürozimmer ist ebenfalls ein sauberer Raum mit mehreren Becken vorhanden, der für die obligatorische Gebetswaschung benötigt wird. Ausserdem wurde ein zusätzlicher Raum für die Schulung von Kindern und Erwachsenen errichtet, in dem die Lehre des Islam vermittelt wird. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Lehre des «Qur`an» behandelt. Darüber hinaus werden Überlieferungen der Lebensweise des Propheten Mohammed und sonstige wichtige Aspekte des Islam thematisiert. Während des Rundgangs bei «IKRE» sticht besonders die Gepflegtheit der Räume hervor. Im Gegensatz zu traditionellen Moscheen, erfolgen die Gebetsrufe nicht über einen Muezzin am oberen Ende eines Minaretts, sondern über eine Lautsprecheranlage, die sich innerhalb der Räumlichkeiten befindet.
„إقرا (Lies! Rezitiere!)
Der Name «IKRE» hat seinen Ursprung aus dem arabischen Wort „Iqra“, was übersetzt „Lies! Rezitiere!“ bedeutet und im islamischen Glauben zur ersten Offenbarung Gottes an den Propheten Mohammed zählt.
Abbildung 2: Gebetsraum der islamischen Gemeinschaft «IKRE» (Bild: Website von „IKRE“)
Interview mit Sali Ibraimi, dem Imam der islamischen Gemeinschaft „IKRE“
Der Imam Sali Ibraimi leitet die rituellen Gebete innerhalb der islamischen Gemeinschaft «IKRE». Dabei steht er an vorderster Stelle und rezitiert die Suren des „Qur’an“. Er hat sich dazu entschlossen, einige Fragen über den Umgang der islamischen Gemeinschaft „IKRE“ mit dem Minarettverbot zu beantworten und präsentierte sich äusserst höflich und zuvorkommend, als er seine Bereitschaft zeigte, ein Gespräch darüber zu führen.
Q: Welche Bedeutung hat das Minarett für Sie?
Sali Ibraimi: Das Minarett ist ein religiöses Symbol, mit dessen Hilfe die Moschee von anderen Objekten unterschieden werden kann. Das Minarett dient der islamischen Identifikation und lässt sich gut mit sonstigen Symbolen vergleichen, die in einem anderen Kontext für eine Identifikation nützlich sein können. In Bezug darauf werde ich einige Beispiele nennen. Generell betrachtet, kann ein Name und Vorname oder auch das Nummernschild eines Autos dabei helfen, einen Menschen zu identifizieren. Flaggen und Wappen werden dazu benötigt, um bestimmte Länder und Städte zu erkennen. Menschen können sich auch durch Kleidung gegenseitig identifizieren. Dementsprechend gibt es ganz viele und unterschiedliche Möglichkeiten, um herauszufinden, um wen oder was es ich bei einer bestimmten Sache handelt. Bei allen genannten Beispielen handelt es sich um Symbole der Identifikation. Auf die gleiche Art und Weise, wie ein Kirchenturm zur Identifikation einer Kirche gehört, trägt ein Minarett zur Identifikation einer Moschee bei.
Q: Welche Meinung vertreten Sie und die islamische Gemeinschaft bezüglich des Verbots von Minaretten?
Ibraimi: Wir vertreten die gleiche Meinung wie die Europäische Union, welche das Verbot als eine Diskriminierung der muslimischen Minderheit und eine barbarische Behandlung anderer Völker und Religionen betrachtet. Die Initiative zum Verbot von Minaretten kann mit einer Initiative zum Verbot eines Autoemblems verglichen werden, wie beispielsweise einer Initiative zum Verbot des Mercedes-Logos, sofern die Hersteller ihre Autos in der Schweiz verkaufen wollen.
Q: Sind für die Praktizierung des islamischen Glauben Minarette notwendig?
Ibraimi: Das Minarett ist für uns Muslime natürlicherweise ein bedeutsamer Bestandteil unserer Kultur und hat vor allem für die Moschee eine besondere Bedeutung. Die Ausübung der religiösen Rituale kann jedoch auch ohne Minarett durchgeführt werden, so wie christliche und jüdische Rituale, die in Kirchen und Synagogen ohne Türme oder Kuppeln stattfinden können.
Zukunft ohne Gewissheit
Wie dem Interview entnommen werden kann, betrachtet der Imam das Verbot als eine Einschränkung der Glaubensfreiheit der muslimischen Gesellschaft. Der Gemeinschaft werde das Recht entzogen, ihre religiöse Identität in der Öffentlichkeit zeigen zu dürfen. Die muslimischen Personen können jedoch auch ohne das Vorhandensein eines Minaretts ihren religiösen Ritualen und Pflichten nachgehen. Dennoch wird das Minarett als ein prägendes Element der religiösen Praxis angesehen und mit der Annahme der Initiative ist ein Stück der kulturellen und religiösen Identität verloren gegangen. Aus diesen Gründen stellt sich die islamische Gemeinschaft «IKRE» gegen das Verbot und fordert die Gleichberechtigung aller religiösen Gemeinschaften sowie den Respekt gegenüber ihren religiösen Rechten und Freiheiten.
Die Initiative von 2009 hat eine jahrelange Debatte ausgelöst, welche sich bis in Gegenwart erstrecken konnte. Im Zuge des Interreligiösen Dialog sollte das Minarettverbot auch in Zukunft eine wichtige Grundlage bieten, um die Wahrung von religiösen Freiheiten zu thematisieren und umzusetzen. Ob sich in den nächsten Jahren etwas an der aktuellen Gesetzesgrundlage ändern wird, bleibt jedoch unklar.
Zur Vertiefung
Literatur
Das Minarett im (politischen) Kreuzfeuer: Rechtliche Überlegungen anlässlich der Einreichung der „Minarettinitiative“, Alexander Schaer, 2008.
Understanding islamic architecture, Attilo Petruccioli; Khalil K. Pirani, 2013.
Islamische Tradition oder autochthones Erbe? Anmerkungen zum Moscheenturm in Westafrika, Dorothee Gruner, 1989.