23. JUNI 2023
Verbunden durch Musik
Dem Publikum präsentierte sich ein gänzlich ungewohntes Bühnenbild, als am Sonntag, 14. Mai 2023 in der Heiliggeistkirche in Bern das neue Werk „Die 99 Namen“ sowie die Komposition „The Mass of Light“ der Komponistin und Dirigentin Jessica Horsley (1971) aufgeführt wurden: Im Zentrum die 16 Basler Madrigalisten, dazu abwechslungsweise ein Solo Tenor, ein Koran-Rezitator, Orgelmusik und der Drehtanz der Derwische. Inwiefern trägt solch ein Anlass zum gegenseitigen Verständnis von Religionsgemeinschaften bei?
Sophie Strauch (sie/ihr) – Interreligiöse Studien, Bern
Jessica Horsley versucht, Spaltung und Gegensätze zu überwinden, indem sie das Gemeinsame in verschiedenen Religionstraditionen sucht und sie zu einem Ganzen verbindet. In ihren Kompositionen sind sowohl koranische als auch biblische Texte einbezogen.
Trotz den vielen Gemeinsamkeiten von Islam und Christentum, wie z.B. die Erschaffung des Menschen, das Paradies oder die Sintflut, ist doch die Beziehung zwischen beiden Religionen auch von Konflikten geprägt. Der dreifaltige Glaube des Christentums (Vater, Sohn und Heiliger Geist) wird vom Islam in Frage gestellt. Das muslimische Glaubensbekenntnis beinhaltet den Glauben an keinen anderen Gott, ausser Gott. Folglich kann aus muslimischer Perspektive Jesus nicht Gottes Sohn sein, sondern „nur“ ein Prophet. Aus ihrer Sicht wurden die Tora und das Evangelium zwar von Gott gegeben, doch wurden deren Inhalte mittels Interpretationen mit der Zeit verzerrt. Mohammed, als Siegel der Propheten, bekam von Gott die Heilige Schrift in unverfälschter Form. Im Islam wird seither diese Schrift bewahrt. Umgekehrt stossen auch manche muslimische Praktiken bei christlichen Gläubigen auf Unverständnis oder Ablehnung.
Abbildung 1: Flyer zum Konzert (erhalten von „Offene Kirche Bern“)
Jessica Horsleys Werke
Mit „Die 99 Namen“ und „The Mass of Light“ konzentriert sich Jessica Horsley auf das Verbindende zweier Glaubensrichtungen. Schon der Titel des ersten Stücks verrät, worum es geht. Jessica Horsley schafft es, über die 99 Namen Gottes, die in der Sufi-Tradition sehr wichtig sind, den Koran und die Bibel miteinander zu verbinden. Das symmetrisch aufgebaute Stück beginnt mit einer Rezitation aus dem Koran. Chor und Tenor Solist setzen vorsichtig ein mit „bismi ‘llahi ‘r-rahmani ‘r-rahmani“ (im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes). Die Gottesnamen werden auf Arabisch gesungen. Nur so kommt die volle Bedeutung zum Tragen, denn Übersetzungen sind nie frei von Interpretation. Nach dem 49. Namen Gottes wechselt die Sprache auf Aramäisch für drei Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium: jene der Barmherzigen, der reinen Herzen und der Friedfertigen. Anschliessend geht es wieder auf Arabisch weiter mit den restlichen 50 Namen Gottes. Das Werk kommt ohne jegliche instrumentale Begleitung aus. Gegen Ende verklingen Chor und Solist und eine weitere Koranrezitation rundet das Stück ab.
Doch nicht nur die Texte versprechen das Verschmelzen der Traditionen, sondern auch im musikalischen Ansatz lässt sich das Verbindende erkennen: Einbezogen werden englische Chortradition und moderne Klangwelten. Durch häufigen Wechsel der Taktart versucht die Komponistin, die akustischen Eigenschaften der Räumlichkeiten zu erweitern, so dass ein Gefühl der Zeitlosigkeit entsteht. Das Programmheft kommentiert, es sei ein musikalisches Überwinden des Diesseits, denn die Zeit sei nur ein Konstrukt des Menschen.
Nicht weniger verbindet „The Mass of Light“ die beiden Religionstraditionen. Die siebenteilige „Mass“ besteht aus Texten aus Bibel und Koran in aramäischer, arabischer, deutscher und englischer Sprache. „Mass“ bedeutet „Messe“, aber auch „Masse“. So gibt uns dieses Werk eine Masse von Licht in einer Messe: Die Orgel fängt ganz alleine mit tiefen Tönen an, der Chor setzt mit Tönen ein, die so hoch sind, dass sie wie Sonnenstrahlen wirken, um das Wort „Licht“ in 15 verschiedenen Sprachen zu singen.
Der Aufbau der „Mass of Light“ ist der Messe des Christentums entlehnt: Introitus, Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus. Die zwei letzten Teile bestehen aus dem „Vater Unser“ und einem Segenslied. Zwischen den einzelnen Messkompositionen lässt Jessica Horsley viel Raum, bei dem die Stille ebenso wichtig ist wie die eigentliche Musik. Viermal wird der Drehtanz aufgenommen. Diese vier Selam (Teile/Begrüssungen) symbolisieren im Sema Ritual der Sufi-Tradition die vier Stationen der spirituellen Reise. Mit weit ausgebreiteten Armen drehen sich die Derwische, die rechte Hand weist zum Himmel, nimmt den Segen und die Gnade Gottes auf, die linke Hand zeigt zur Erde, durch sie fliesst alles auf die Erde, was von Gott empfangen wird. Der Fokus liegt auf dem Geben.
Abbildung 2: Aufführung von „The Mass of Light“ am 14. Mai 2023 in der Heiliggeistkirche Bern (Foto von Sophie Strauch)
Der Verein „offene kirche bern“
Die Heiliggeistkirche bietet den idealen Ort, um im Stadtzentrum von Bern, direkt neben dem Bahnhof dieses Konzert durchzuführen. Offenheit hat sich diese Kirche auf die Fahne geschrieben: Der Verein „offene kirche bern“ bietet Raum für Konzerte, interreligiöse Gebete, Meditationen, Lesungen und Ausstellungen zu gesellschaftsrelevanten und spirituellen Themen; Angebote, die in einer klassischen Kirchgemeinde nicht unbedingt zu finden sind.
Antonio Albanello, Projektleiter von „offene kirche bern“, hat die Aufführung zusammen mit Jessica Horsley organisiert und durchgeführt. Gemäss seiner Aussage kommen an ein solches Konzert eher Menschen mit einer gewissen Offenheit, was nicht zuletzt mit einem gewissen Bildungsstand einhergeht. Solch ein Anlass sage nicht allen zu. Verständlicherweise würden viele, insbesondere viele muslimisch Gläubige, an ihrer Kultur haften, die Religion mache davon einen grossen Teil aus, was nicht unbedingt Offenheit für andere Religionen mit sich bringe. Religion könne auch ein Korsett sein. Er erklärt ebenfalls, dass das Mystische im Sufismus einen freien Raum schaffe, so wie dies die Musik auch vollbringe. In diesem gemeinsamen Raum könne sich die Komposition von Jessica Horsley bewegen; ein Ideal, fern von unserer Gesellschaft.
Koran Rezitator Kerem Adigüzel
Kerem kann die Aufführung aus der Sicht des Mitwirkenden beurteilen. Mit Jessica Horsley ist er schon länger bekannt, die beiden verstehen sich gut, die Rolle des Rezitators in „die 99 Namen“ ist direkt auf ihn zugeschrieben. Selber sieht er sich als Koran-Exeget und Gottergebener. Anderen Gläubigen gegenüber ist er äusserst offen, und er will aktiv zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Die Verbindung der Rezitation und der „Mass of Light“ sieht Kerem als Ausdruck der universellen Gotteshingabe, die seinem persönlichen mystischen Weg entspricht. Ein grenzenloser Gottesdienst, der sich menschlich-begrenzter Elemente aus verschiedenen Traditionen bedient. So wirkt die Religion für den Menschen als Ausdruck von Gottes Liebe und nicht umgekehrt. Zur Aufführung sagt er: „Von Christen habe ich gehört, dass es in der Komposition mehr Elemente aus dem Islam gebe, und von Muslimen, dass es mehr Elemente aus dem Christentum habe.“ Alles eine Frage der Wahrnehmung, der Erwartungshaltung. Kerem meint: „In dieser Komposition kommen die Menschen mit dem „Anderen“ in Kontakt und lernen es auf diese Weise kennen.“ Dennoch weiche es für manche zu stark von der Tradition ab, so dass sie eben nicht zum Konzert kommen.
Stimmen aus dem Publikum
Was ist beim Publikum zu beobachten? Man sieht den Menschen nicht an, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören. Zählen ist unmöglich, es ist ein Eindruck: Eher mehr Christen als Muslime. Fest steht, dass jene, die kommen, interessiert sind, gespannt, offen. Zielstrebig überschreitet eine ältere Dame die Absperrung zur Empore, andere tun es ihr nach. Eine Frau im Publikum faltet die Hände zum Gebet, schliesst die Augen. Eine andere äussert sich zwar bewundernd, dennoch kritisch: Es sei schön, aber doch zu fremd, um die Seele zu berühren. Doch auch sie ist hingerissen von Bild, Klang und Stimmung: Der Organist, der bei „Mass of Light“ direkt oberhalb der Madrigalisten sitzt und feierliche Musik spielt, der Rezitator Kerem Adigüzel, der mit seiner erhabenen Stimme die Kirche füllt, der Tenor, dessen Gesang alles durchdringt, dazu die Derwische, die das Gute vom Himmel zur Erde bringen.
Fazit
Das Gute ist angekommen, das Verbinden gelungen. Der Applaus hält an, als Jessica Horsley den Mitwirkenden mit einer Umarmung dankt. Beim sich langsam erhebenden Publikum ist zu spüren, dass die Klänge nachwirken. Niemand redet laut, niemand geht schnell. Bedächtig begibt man sich zum Ausgang, alle sind um eine Erfahrung reicher, alle haben Neues erlebt – das verbindet und schafft Verständnis. Möge Jessica Horsley weitere Stücke komponieren und zur Aufführung bringen.
Zur Vertiefung
Literatur
Hagemann, Ludwig. Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehung, Darmstadt 2005.
Kuschel, Karl-Josef. Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Ostfildern 2017.
Schimmel, Annemarie. Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 2014.