23. JUNI 2023
Erweckung und Verfolgung:
Gründung der Freien Evangelischen Gemeinde Bern
Freikirchen sind verbreitet in der Schweiz; über 750 Ortsgemeinden gehören zum Dachverband Freikirchen.ch. Darunter auch der Bund Freie Evangelische Gemeinden, zu dem heute über 90 freie christliche Gemeinden an verschiedenen Orten der Schweiz gehören. Freikirchen prägen die Religionslandschaft der Schweiz. Am Beispiel der Freien Evangelischen Gemeinde in Bern (FEG), die erste ihrer Art, wird die Gründungsgeschichte einer Freikirche, und damit ein kleiner Teil der Berner Kirchengeschichte, erkundet.
Mia Baumgartner (sie/ihr) – 2. Semester Bachelor Hispanistik und Anglistik, Bern
Das Gebäude der FEG befindet sich mitten in Berns Innenstadt. Läuft man vom Waisenhausplatz die Zeughausgasse entlang Richtung Kornhausplatz fallen vor allem die Bäckerei Glatz, die Restaurants Luce und Bärenhöfli und das Hotel Kreuz ins Auge. Der Bücherladen „Fontis“ wird erst auf den zweiten Blick ins Schaufenster als christlich wahrgenommen. Der Eingang der FEG wird von diesem Schaufenster fast versteckt, die nach hinten versetze Holztüre wird nicht zwischen den Schaufenstern vermutet. Das rote Backsteinhaus an der Zeughausgasse 35 ist keine klassische Kirche. Doch die Besuchenden erwartet eine Überraschung auf der anderen Seite der schweren Holztüre: Ein Kirchenschiff-ähnlicher Raum mit Galerie aus dunklem Holz und einer Orgel. Die Mitglieder nennen die FEG nicht ohne Grund „Kapelle“. Der Standort ist paradox; mitten im Stadtzentrum und doch versteckt, unscheinbar von aussen, doch beeindruckend von innen. Wie wurde diese Freikirche gegründet und welche Rolle spielen Verfolgung und Erweckung dabei?
Abbildung 1: Die FEG Bern von aussen mit der Eingangstür zwischen den Schaufenstern von „fontis“ (Bild: Mia Baumgartner)
Freikirchen sind in der Schweiz privatrechtlich organisierte Körperschaften, während evangelisch-reformierte (römisch-katholische und christkatholische) Gemeinden öffentlich-rechtlich anerkannt und vom Staat unterstützt sind. Sie alle gehören zur christlichen Religion, setzen aber verschiedene Schwerpunkte und würden sich an verschiedenen Stellen des Spektrums zwischen liberalem und konservativem Christentum einordnen.
Freikirchen werden als ‚freie Kirchen‘ bezeichnet, weil sie unabhängig vom Staat sind. Freikirchen sind sehr heterogen, auch innerhalb der Freikirchenbewegung gibt es grosse Unterschiede. Im Kanton Bern gibt es über 300 privatrechtlich organisierte, christliche Gemeinschaften, die meisten davon sind Freikirchen.
Abbildung 2: Die Kapelle der FEG Bern von innen (Bild: Mia Baumgartner)
Erweckung
1528 wurde die Reformation in Bern eingeführt und 1532 wurde diese Entscheidung erneut bekräftigt. Somit war die evangelisch-reformierte Kirche in Bern geboren, eine christliche Kirche getrennt von den sogenannten Altgläubigen. Bern folgte damit dem bereits reformierten Zürich. 200 Jahre später bildeten sich Gruppierungen innerhalb dieser reformierten Kirchen, die Mitglieder anhand einer persönlichen Entscheidung für den Glauben an Gott und nicht durch die reine Kindstaufe aufnahmen. Die Vorgängerin der Freien Evangelischen Gemeinde Bern ist die Eglise de Dieu. Sie war geprägt von der Erweckungsbewegung «Réveil» in Genf, die sich 1815 unter Einfluss des Schotten Robert Haldane (1764 – 1842) von Genf in andere Kantone ausbreitete. Durch diese Bewegung entstanden die ersten Freikirchen in der Westschweiz. Karl von Rodt (1805 – 1861), ein Berner Patrizier, verbrachte ein halbes Jahr in Genf, wo er massgeblich von der Erweckungsbewegung geprägt wurde. Die Dissidierenden, die Teil des Genfer Réveil waren, trennten sich von den reformierten Landeskirchen, weil ihnen diese zu liberal geworden waren. Die Eglise de Dieu war eine kleine Gemeinde bestehend aus Unterstützenden der Erweckungsbewegung in Bern. Karl von Rodt trat 1829 aus der Landeskirche aus und schloss sich ihr an. Diese Entscheidung blieb nicht ohne Folgen.
Verfolgung
Karl von Rodts Mitgliedschaft in der Dissidentengemeinde hatte persönliche Konsequenzen für ihn. Er war Kammerschreiber und er verlor seine Stelle wegen seinen religiösen Überzeugungen. Wenig später wurde er inhaftiert, weil er trotz Verbot weiterhin die Eglise de Dieu besuchte. Und es ging noch weiter: Die 21 Mitglieder der Gemeinde wurden von der Berner Regierung aus der Stadt gewiesen und einige, darunter auch Karl von Rodt, mussten den Kanton Bern verlassen.
Am 3.Oktober 1831 durfte Karl von Rodt wieder nach Bern, einige Monate später folgte eine Aufhebung der Verbannung für die restlichen Dissidenten und Dissidentinnen. 1833 wurde Karl von Rodt Leiter der Dissidentengemeinde in Bern, die später Freie Evangelische Gemeinde Bern genannt wurde. Sie bestand anfangs vor allem aus Sympathisierenden der Erweckungsbewegung, die zurück nach Bern kamen. Wichtig für sie waren die Mission in der Schweiz und im Ausland, das heisst die Verbreitung der christlichen Lehre, Sonntagsschule für Kinder und Kirchenzucht. Um Mitglied zu werden, musste man sich zum christlichen Glauben bekehrt haben und ein Leben nach dem Vorbild der Bibel führen. Die Gründung der FEG wurde durch die Verfassung vom 6. Juli 1831 der Republik Bern, die die Glaubensfreiheit einführte, möglich. Karl von Rodt blieb bis zu seinem Tod 1861 Leiter der FEG.
Die FEG Bern heute
Die Freie Evangelische Gemeinde Bern trifft sich seit 1897 in der Kapelle an der Zeughausgasse. Vorher hatten sie eine Kapelle an der Inselgasse, die sie wegen einer Erweiterung des Bundeshauses verlassen mussten. Armin Mauerhofer, der sich in seiner Doktorarbeit mit Karl von Rodt und der Entstehung der Freien Evangelischen Gemeinde befasste und regelmässig in der FEG Bern predigt, beantwortete mir einige Fragen über den Einfluss der Entstehungsgeschichte der FEG bis heute. Laut ihm wird die FEG Bern heute von ähnlichen Werten wie damals, als von Rodt die FEG leitete, geprägt. So wird man nicht durch Kindertaufe oder Konfirmation Mitglied, sondern durch ein Bekenntnis zum christlichen Glauben. Das Unterrichten und Fördern von Kindern von Gemeindemitgliedern hat nach wie vor grossen Stellenwert, genau wie die evangelistische Verkündung der Glaubensinhalte, vor allem des Evangeliums. Einige Mitglieder der FEG Bern treffen sich einmal im Monat, um auf den Strassen Berns Leuten von Jesus zu erzählen und für die Kinder gibt es ein separates Programm während des Gottesdienstes sowie eine sogenannte ‚Jungschar‘, eine Art christliche Pfadfindergruppe.
„Viele Anliegen, die Karl von Rodt bewegt haben und die er auch umgesetzt hat, prägen noch heute die Freikirchen in der Schweiz“, meint Armin Mauerhofer. So ist von Rodts Lebenswerk von der FEG Bern aus prägend für Gemeinden im Rest der Schweiz. Der Bund der Freien Evangelischen Gemeinden lässt sich auf die Ortsgemeinde in Bern zurückführen und ist nach wie vor aktiv.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Gründung der Freien Evangelischen Gemeinde Bern und damit auch den Bund FEG Schweiz kein einfaches Unterfangen war. Karl von Rodt und die anderen Mitglieder der Erweckungsbewegung mussten Opfer bringen und Verfolgung ertragen, vom Jobverlust bis zur Inhaftierung und Ausweisung aus dem Kanton Bern. Doch sie gaben nicht auf und durften sich zuletzt frei unter dem Gesetz nach ihren Überzeugungen und Vorstellungen treffen. Die FEG Bern trifft sich bis heute regelmässig zum sonntäglichen Gottesdienst, zu Gebets- und Bibelstunden und verfolgt ähnliche Ziele wie damals. So hat Karl von Rodt zusammen mit der Anhängerschaft der Erweckungsbewegung von 1831 nicht nur die Freikirchen in Bern geprägt, sondern auch eine freikirchliche Bewegung im Rest der Deutschschweiz bewirkt.
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