23. JUNI 2023
Jüdischer Friedhof in Bern
1871 wurde der jüdische Friedhof in Bern eröffnet. Welche Rolle spielte die Entstehung einer eigenen Grabstätte für die jüdische Gemeinschaft und wie verhielt sich die Stadt Bern zu dieser Religionsminderheit?
Philippe Stehelin (er/ihm) – 2. Semester Bachelor Minor Interreligiöse Studien, Bern
Abbildung 1: Der 1871 entstandene jüdische Friedhof in Bern. (Foto: Philippe Stehelin).
Jüdischer Friedhof im Mittelalter
Jüdisches Leben ist in der Stadt Bern seit dem 13. Jahrhundert nachgewiesen. Das zeigt unter anderem die Überlieferung der Existenz eines jüdischen Friedhofs. Er befand sich neben dem „Judentor“, bei der damaligen Judengasse – der heutigen Kochergasse. Ebenfalls wird davon ausgegangen, dass an der Stelle des heutigen Ostflügels des Bundeshauses ein „Judenhaus“ stand, welches Angehörigen des Judentums offenstand. Diese Annahme überliefern zwei undatierte Grabsteinfragmente, von welchen angenommen wird, dass sie aus dem 13. Jahrhundert stammen. Es wird davon ausgegangen, dass jüdische Menschen zu dieser Zeit verteilt in der ganzen Stadt lebten. Sie waren für den Erfolg der Wirtschaft in Bern zentral. Nebst weitreichenden Netzwerken besassen sie das nötige finanztechnische Wissen. Doch es kam vermehrt zu gezielten Vertreibungsversuchen, wie die Entziehung des Bleiberechts der jüdischen Menschen in der Stadt. Sie wurden zu Hauptschuldigen in ungeklärten Morden und als Ursache von Katastrophen erklärt, wie beispielsweise bei der Ritualmordbeschuldigung 1294 oder bei den Stadtbränden 1286 und im darauffolgenden Jahr. Diese Beschuldigungen und Vertreibungen führten dazu, dass am Ende des 13. Jahrhunderts nur noch wenige jüdische Menschen in der Stadt Bern lebten. Die Anlage, auf welcher sich unter anderem der Friedhof befand, verkaufte die Stadt an verschiedene Menschen der Stadt und wurde umgestaltet.
In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts liessen sich eine kleine Zahl an jüdischen Menschen erneut in Bern nieder. Ein Gemeindezentrum oder ein Friedhof war nicht mehr vorhanden, und die Toten wurden zur Bestattung ins Elsass gebracht. Aber auch in dieser Zeit wurden die jüdischen Menschen der Stadt Bern wiederholt verfolgt und vertrieben. Zudem hatten sie nicht mehr den gleichen Einfluss im Bereich der Wirtschaft der Stadt, weil es italienische und deutsche Konkurrenz gab. Schliesslich kam es in Bern am 10. Mai 1427 zu einem Ausweisungsbeschluss, der folgendes forderte: „[…] die Juden seien auf ewig von Stadt und Land fernzuhalten und nie mehr als Bürger in Bern zu empfangen.“ Von nun an durften sich jüdische Menschen nur noch als durchreisende Händler_innen oder Ärzt_innen in der Stadt aufhalten.
Wiederkehr im 19. Jahrhundert und Gründung einer Gemeinschaft 1848
Bis auf wenige Einzelfälle kann erst im 19. Jahrhundert wieder jüdisches Leben in Bern nachgewiesen werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten etwa 60 Familien, die meisten aus dem Elsass kommend, in Bern ein. Bereits 1805 ging ein Bewilligungsgesuch bei der Berner Regierung für den Erwerb eines eigenen Begräbnisplatzes ein. Zwei Jahre später folgte ein weiteres Gesuch für den Bau einer Synagoge. Somit ging noch vor dem Baugesuch einer Synagoge die Bitte nach einer eigenen Begräbnisstätte ein. Dies ist ein Zeugnis für die Wichtigkeit und Dringlichkeit eines Friedhofs für die damaligen jüdischen Menschen. Mit folgenden Worten, welche in den Akten des Stadtrates zu finden sind, versuchten die jüdischen Menschen in Bern 1805 auf ihr Anliegen und ihre Notlage aufmerksam zu machen: Die Toten müssten „bey 20 oder mehr Stunden zur Begräbnis transportiert werden“ was „in Sommerszeit höchst gefährlich und der Gesundheit schädlich seyn dürfte“. Die Toten wurden nämlich, wie oben bereits erwähnt, noch immer ins Elsass überführt, um dort begraben zu werden. Die Bitte wurde jedoch abgelehnt und es wurde auf den bereits bestehenden Friedhof in Bern verwiesen. Das muss für die jüdischen Menschen damals sehr schwierig gewesen sein, da das jüdische Gesetz einen eigenen Begräbnisplatz vorsieht und die Beerdigung am Tag des Todes stattfinden sollte. Ausserdem gelten jüdische Friedhöfe als heilige Orte, an welchen Bestattungen in Übereinstimmung mit den jüdischen Vorschriften und Traditionen vollbracht werden sollten.
Eine Volksabstimmung von 1846 befreite die jüdischen Menschen in der Stadt Bern von den noch immer geltenden Sonderbestimmungen, die unter anderem nichtchristliche Gottesdienste verboten hatten. Durch die neuen Gesetze konnte 1848, unter dem Namen Corporation der Israeliten, die jüdische Gemeinschaft in Bern entstehen. Aber erst mit der Annahme der Abstimmung über die Niederlassungsfreiheit und die Rechtsgleichheit 1866 erhielten die jüdischen Menschen der Schweiz unbeschränkte Niederlassungsfreiheit.
Weiterer Antrag für eine Begräbnisstätte
1870 reichte die jüdische Gemeinschaft eine Petition ein, in der sie einen Zuspruch für einen Teil des fünf Jahre zuvor entstandenen Bremgartenfriedhofs forderten. Der Gemeinderat lehnte ab, „dieser oder jener religiösen Genossenschaft“ einen Teil des Bremgartenfriedhofs zuzusprechen.
Der Berner Bremgartenfriedhof, der heute von der Stadt Bern als „Friedhof der Religionen“ betitelt wird, bietet Platz für das Begräbnis von Angehörigen des Christentums, des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus und auch für Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Für Angehörige des Judentums verweist die Stadt auf den jüdischen Friedhof. Anders als in der Entstehungszeit des jüdischen Friedhofs geht die Stadt Bern heute aktiv auf Religionsminderheiten zu. Dialoge werden gesucht und gemeinsame Lösungen sind das Ziel.
Einem eigenen Grundstück für eine Begräbnisstätte der jüdischen Gemeinschaft widersprach der Gemeinderat jedoch nicht. So konnte am 5. September 1871 der Friedhof an der Papiermühlestrasse eingeweiht werden, und am 17. November 1871 fand die erste Beerdigung statt. Eine lang ersehnte Forderung der jüdischen Gemeinschaft hatte somit Erfolg. Die Historikerin Angela Bhend weist daraufhin, dass die Gemeinschaft damit einen Schritt näher daran war, sämtliche Aufgaben einer Kultusgemeinde zu erfüllen. Wahrscheinlich auch deshalb ist eine deutliche Zunahme der jüdischen Bevölkerung auszumachen. In der Bevölkerungsstatistik jüdischer Einwohner zeigt sich, dass die Mitgliederzahlen ab 1860 konstant bis zur Jahrhundertwende wuchsen. Denn „wichtige institutionelle Strukturen wie der Bau einer Synagoge oder die Unterhaltung eines eigenen Friedhofs konsolidieren die eigene Konfessionalisierung und trugen zur Erhaltung und Entfaltung jüdischen Lebens in Bern bei. […] verbesserte soziale Verhältnisse und wirtschaftlicher Erfolg, [verschafften] den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft.“
Die Entstehung des Friedhofs fiel in die Zeit, als die jüdischen Menschen in der Schweiz mit den Gesetzen von 1866 und 1874 die freie Wahl des Erwerbs- und Wohnortes sowie religiöse und kulturelle Ausübung ihres Glaubens erlangten. Der eigene Friedhof war ein weiterer Schritt zur Gleichberechtigung der jüdischen Gemeinschaft in Bern. So gab es in der Schweiz 2016 zahlreiche Anlässe unter dem Titel „Schweizer Juden: 150 Jahre Gleichberechtigung“, die an die Abstimmung von 1866 erinnerten. Doch es kam auch zu gesetzlichen Rückschritten für die jüdischen Menschen, wie beispielsweise mit dem Schächtverbot von 1893, dass zu einer Einschränkung ihrer Religionsfreiheit führte. Und noch immer wurden jüdische Menschen als fremd wahrgenommen und auf ihre Religion reduziert. Dies verdeutlicht beispielsweise das 1940 erstmals erschienene Werk Bärnerläbe vor siebezg Jahre, des Berner Schriftsteller Albert von Tavel (1859-1941). In seinen niedergeschriebenen Erinnerungen benutzt der Autor folgende Worte: „Vom Bäreplatz weiss i nume no, dass ds Egghus, wo jitze Bäregg heisst, damals ds Hôtel de l’Europe isch gsi, […] Unden inne het der Jud Blum-Javal eleganti Chleider verchouft. Richtig, jitz chunt mer no i Sinn, dass a der Spittelgass, öppe da wo jitz der Bell sys Fleisch feil het, o ne Jud namens Nordmann Tuech verchouft het, es isch en ordleche, nätte Mändel gsi.“ Dieses andersartige oder „des nicht richtig einzuordnenden fremden Juden“, um bei den Worten von Angela Bhend zu bleiben, verdeutlicht auch eine Lithografie von 1898, die „Berner Einwohner der Stadt“ abbildet.
Abbildung 2: Berner, Einwohner der Stadt. 1898. 23,4 x 36 cm. ©Burgerbibliothek Bern, Gr.B.89.
Fazit
Die Erbauung des jüdischen Friedhofs war für die damals junge Gemeinde ein mühsamer und langjähriger Kampf. 66 Jahre nach dem ersten Gesuch erhielt die Gemeinschaft den Zuspruch für eine eigene Grabstätte. Das verdeutlicht, wie sich diese Religionsminderheit gegen eine Mehrheit wehren musste und viele Rückschläge erlitt. Der Besitz einer eigenen Grabstätte war ein weiterer Schritt zur Emanzipation der jüdischen Gemeinschaft in Bern. Heute geht die Stadt offener und aktiver mit Minderheiten um. Dies zeigt beispielsweise der Bremgartenfriedhof, der Platz für Religionsminderheiten bietet. Vermutlich hätte die jüdische Gemeinschaft in der gegenwärtigen Zeit einen Platz auf dem Bremgartenfriedhof erhalten.
Seit seiner Entstehung hat sich der jüdische Friedhof und die jüdische Gemeinde Bern verändert. Seit 1988 befindet sich auf dem Friedhof ein von Oskar Weiss entworfenes Denkmal zu Ehren der Schoa-Opfer. In der Stadt Bern sind am heutigen Tag (15.6.2023) Stolpersteine öffentlich verlegt worden, um fünf Opfern des Antisemitismus zu gedenken.
Zur Vertiefung
Stolpersteine in Bern
Literatur
Bloch, René, Rainer Christoph Schwinges, Armand Baeriswyl, Olivia Franz-Klauser, Karin Huser, Angela Bhend, Ron Epstein, et al. Wie über Wolken: jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200-2000. Zürich: Chronos, 2014.
Baeriswyl, Armand; Kissling, Christiane: Bevor es ein Bundeshaus gab. Zur Geschichte und Archäologie des Bundesplatzes, in: Bundesamt für Bauten und Logistik/Stadt Bern/Die Mobiliar (Hg.), Neugestaltung Bundesplatz in Bern 2004, Bern 2004; S. 11-25.
Bildquelle Abbildung 2: https://katalog.burgerbib.ch/detail.aspx?ID=112265