09. Januar 2023
Ehe und Familie: Ein Friedensprojekt?
Das durchschnittliche Heiratsalter in der Schweiz liegt bei ungefähr 31 Jahren. Dieser Blogbeitrag geht der Frage nach, weshalb sich zwei junge Frauen aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften bereits mit Anfang 20 für eine Heirat entschieden haben.
Tabea Rätz (sie/ihr) – Bachelor Osteuropa-Studien und Interreligiöse Studien Bern
Borba, Jonathan: Wedding Backgrounds, Itaunas 2019.
Einführung
Junge Erwachsene, die sich für eine frühe Heirat entscheiden, geraten oftmals in unterschiedliche Konfliktsituationen. Teilweise müssen sie sich rechtfertigen, weshalb sie sich für diese Art von Leben entscheiden, welche sich in vielen Fällen von der Lebenssituation ihres täglichen Umfeldes unterscheidet. In diesem Beitrag soll zwei Stimmen aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften Platz gegeben werden, um einen Einblick in ihre Gedanken zu Ehe und Familie in Bezug auf das Thema Frieden zu erhalten. Das Ziel dieses Beitrags ist es, zu zeigen, weshalb sich diese jungen Frauen für eine Ehe und Familie im jungen Erwachsenenalter entschieden haben. Dabei sollen folgende Fragen im Vordergrund stehen: Welche Bedeutung haben Ehe und Familie im Islam und im Christentum und inwiefern können Ehepaare und Familien eine friedensstiftende Wirkung auf die umliegende Nachbarschaft, die Religionsgemeinschaft und die Gesellschaft haben?
Auswahl der Interviewpartnerinnen
Um den Leitfragen auf den Grund gehen zu können, habe ich zwei Interviews durchgeführt. Die beiden Interviewpartnerinnen sind zwischen 19 und 22 Jahre alt. Zudem sollen sie entweder verlobt oder verheiratet sein. Beide Befragte müssen einer unterschiedlichen Religion angehören und sich mit deren Werten auskennen. Aus Datenschutzgründen werden für die Interviewpartnerinnen Decknamen verwendet.
Interviewpartnerin „Alia“
Die erste Interviewpartnerin ist 21 Jahre alt und seit April 2022 verlobt. Die Hochzeit soll im Mai 2023 stattfinden. Alia bezeichnet sich als wiedergeborene Christin und ist in einer freikirchlichen Gemeinde aufgewachsen. Heute ist sie immer noch Teil dieser Freikirche und leitet die dazugehörige Jugendgruppe. Alia arbeitet vollzeitlich in einer Kindertagesstätte im Berner Seeland.
Interviewpartnerin „Jana“
Die zweite Interviewpartnerin ist 22 Jahre alt und seit Sommer 2020 verheiratet. Im September erwartet Jana ihr erstes Kind. Sie studiert Nahost- und Osteuropastudien an der Universität Bern. Aufgewachsen in einer muslimischen Gemeinschaft im Kanton Aargau bezeichnet sie sich als Muslimin. Auch heute ist Jana immer noch Teil und aktives Mitglied jener religiösen Gemeinschaft.
Bedeutung der Ehe im Christentum
Die Idee einer christlichen, langfristigen partnerschaftlichen Beziehung entspringt bereits den ersten Sätzen im Alten Testament. Bereits im zweiten Kapitel des Buches Genesis spricht Gott, dass es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist. Daher schuf Gott aus einem geschlechtslosen Menschen zwei gleichberechtigte Partner_innen mit unterschiedlichen Ausprägungen. (Genesis 2,18-24) Im neuen Testament tritt ein weiteres Bild in Kraft: Hochzeit und Ehe werden sinnbildlich für die Liebe Gottes zu seinen menschlichen Geschöpfen und der Kirche verstanden. Jesus wird dabei als Bräutigam und die Gemeinde als Braut betrachtet. Interviewpartnerin Alia äusserte sich während des Interviews ähnlich zur Bedeutung der Ehe im Christentum. Sie beschreibt, dass das Bild der Ehe gebraucht wird, um zu zeigen, wie sehr Jesus die Menschen und die christliche Gemeinde liebt. Dabei erklärt sie, dass Jesus sinnbildlich für den Bräutigam und die Gemeinde für die Braut steht. (Offenbarung 22,17) Dabei betont Alia, dass dieses Bild zeige, dass sich Jesus nach einer Intimität und Gemeinschaft mit den Menschen sehne. Zudem erwähnt sie, dass die Gemeinde mit einer grossen Familie gleichgesetzt werden kann. In einer solchen Familie sollen Wachstum, Güte und Vergebung geschehen.
Dieses Bild von Ehe hat Alia auch bei ihren Eltern erlebt. Sie beschreibt, dass ihre Eltern sich ergänzen und in ihrer Partnerschaft nicht nur den eigenen Vorteil, sondern einen gemeinsamen Weg suchen. Dieses Bild von Ehe, gekoppelt mit den christlichen Werten, hat Alia dazu bewegt, selbst früh heiraten zu wollen.
Bedeutung der Ehe im Islam
Wie im Christentum bejaht der Koran Ehe und Familie. Ein Ehevertrag bildet die Basis der Eheschliessung. Zugleich soll die Ehe auch im Islam voller Liebe und Zuneigung gelebt werden. Dabei sollen beide Ehepartner:innen gleichberechtigt sein. Bei der Heirat verpflichten sich die Ehepartner:innen, das friedliche Zusammenleben zu wahren und für das Wohl gemeinsamer Kinder zu sorgen. Der Mann steht in der Verantwortung für den Lebensunterhalt, während die Frau das Recht auf Schutz und Unterhalt durch ihren Mann erhält. Dies ist im religiösen Recht des Islams, der Shari’a, festgelegt. Ähnlich wie Interviewpartnerin Alia hat Interviewpartnerin Jana ein positives Bild von Ehe und Familie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt. Auch ihre Eltern sind immer noch glücklich verheiratet.
„Eine Freundschaft!“ So antwortete Jana auf die Frage, welches Bild von Ehe sie in ihrer Kindheit und Jugend vermittelt bekommen hat. Eine Freundschaft auf einem nächsten Level, so beschrieb Jana die Ehe ihrer Eltern. Genau wie für Interviewpartnerin Alia spielten auch für Jana die Eltern eine wichtige Rolle bei dem Entscheid für eine junge Heirat. Deren Ehe habe sie inspiriert und sie wolle dies gleichermassen erleben. Jana führt weitere Gründe ins Feld, weshalb sie sich für eine frühe Heirat entschieden hat. Sie beschreibt, dass im Islam die Ehe etwas Heiliges sei, etwas, das zwei Personen zutiefst verbindet – «einen Bund». Deshalb wusste sie, dass sie dieses Erlebnis nur mit einer einzigen Person teilen möchte. Aufgrund ihrer Karrierepläne wünschte sie sich, früh jemanden kennenzulernen, mit dem sie von Anfang an ein gemeinsames Leben aufbauen kann. Als Jana ihren jetzigen Mann kennenlernte, war sie offen für eine Beziehung, welche in einer Ehe enden würde. Diesen Entscheid hat sie nie bereut und sie beschreibt ihre Ehe als die Freundschaft, welche sie ihr Leben lang bei ihren Eltern beobachtet und für sich selbst gewünscht hat.“
Ehe als friedensstiftendes Konzept?
Das schweizerische Bundesamt für Statistik legt dar, dass die Scheidungsziffer in der Schweiz seit 1970 um ungefähr 15 % angestiegen ist. Es lassen sich etwa zwei von fünf verheirateten Ehepaaren im Laufe ihres Lebens wieder scheiden. Gründe wie psychische oder physische Gewalt, fehlende Körperlichkeit oder Treuelosigkeit können zu einer Scheidung führen. Solche Erfahrungen und Erlebnisse lassen sich schwer mit dem Thema Frieden verbinden. Oftmals enden Ehen in Konflikten zwischen den sich einst einigen Ehepartner:innen. Als die Interviewpartnerinnen zum Thema Frieden in einer Ehe befragt wurden, fanden beide, dass Ehe an sich eine friedensfördernde Verbindung sei. Für Interviewpartnerin Jana ist der Bund, der zwischen zwei Ehepartnern besteht, Motivation, um nach einer Lösung bei Konflikten zu suchen. Da aus einer Ehe nicht leicht ausgestiegen werden kann, müssen Lösungen und Kompromisse gefunden werden. Wenn diese Herausforderungen gemeinsam gemeistert werden, ist eine Ehe für sie friedensstiftender als eine Beziehung ohne Ehe, welche in einer Trennung endet. Interviewpartnerin Alia beschreibt die Freude und Liebe wenn sie bei der Arbeit in der Kindertagesstätte beobachtet, wie Eltern ihre Kinder abholen. Ihrer Meinung nach ist der Mensch ein Wesen, das sich nach einem Gegenüber sehnt. Dabei ist es möglich, dass Menschen Rückhalt und Frieden in der Ehe oder Familie finden. Weiter meint sie, dass Frieden nur in die Welt hinausgetragen werden kann, wenn die Person bereits mit sich selbst in Frieden ist. Weiter wurden die beiden Interviewpartnerinnen gefragt, ob Ehe und Familie eine friedensstiftende Wirkung auf ihr Umfeld und die Gesellschaft haben können. Jana meinte, dass Personen in einer Familie geformt werden. Persönlichkeiten, Meinungen, Werte sowie unter Umständen religiöse Prägungen entstehen unter dem Dach der elterlichen Ehe und Familie. Dabei entfaltet sich auch die Idee und Vorstellung der Ehe. Junge Erwachsene verlassen das Elternhaus mit Erfahrungen, welche sie zu Hause gemacht haben, und leben nach diesen Erfahrungen. Wenn Frieden in einer Ehe entsteht, kann dieser nach aussen getragen werden und zu einer friedlicheren Gesellschaft beitragen.
Schlussfolgerung
Was bedeutet das nun? Welchen Effekt können Ehepaare auf die umliegende Nachbarschaft und Gesellschaft haben?
Alia und Jana haben beide ein solch positives Bild von Ehe in ihrer Kindheit und Jugend mitbekommen, dass dies mit ein Grund dafür war, weshalb sich beide für eine frühe Heirat entschieden haben. Obwohl beide von ihnen unterschiedlichen Religionen angehören, haben sich während der Interviews einige Gemeinsamkeiten gezeigt. Beide Elternpaare der Interviewpartnerinnen sind nach 30 Jahren immer noch glücklich verheiratet. Dadurch haben beide ein positives Bild des Konzepts Ehe. Nicht nur positive Erfahrungen, sondern auch religiöse Gründe haben beide zu einer Ehe motiviert. Dabei muss jedoch hinzugefügt werden, dass oftmals in traditionell geprägten Gemeinschaften ein bestimmter Druck auf Ehen und Familien lastet, ein glückliches Leben zu führen, und die Auflösung einer Ehe kommt oftmals nicht in Frage. Zudem beziehen sich die Aussagen der beiden Interviewpartnerinnen auf ihre eigenen Eltern und sind deshalb wenig objektiv.
Schlussendlich kristallisiert sich trotzdem heraus, dass der Frieden, welcher in einer Ehe entsteht, nach aussen getragen werden kann und möglicherweise zu einer friedlicheren Gesellschaft beiträgt. „Der Friede, welcher nach aussen getragen wird, kann nie tiefer und grösser sein als der Friede, der im Innern einer Ehe und Familie entsteht.“
Zur Vertiefung
Lenzin, Rifa’at: Liebe und Ehe im Islam, Religion.ch
Literatur
Tatari, Muna: Die Ehe – nur ein Vertrag?, in: Schöningh, Ferdinand (Hg.): Ehe im Islam und Christentum, Paderborn 2016.
Bildquelle: https://unsplash.com/de/fotos/braut-und-brautigam-handchen-haltend-auf-einem-feld-i2gom1zDv5Y