8. Oktober 2024
Religionssensible Altersbetreuung in der Stadt Bern
Nora Ebinger
Master Religion in Globaler Gegenwart, 2. Semester
In der SRF Sendung Reporter «Hindu-Priester in der Schweiz – Spagat zwischen Integration und Tradition» vom Januar 2024 macht der Hindupriester Sasikumar Tharmalingam auf das Thema der kultur- und religionssensiblen Altenpflege aufmerksam. Heute leben gemäss ihm über 10’000 pensionierte Tamilinnen und Tamilen in der Schweiz und einige davon werden, früher oder später, auf die Pflege in einem Alters- und Pflegeheim angewiesen sein. Die vorherrschende Idee im Hinduismus sei, so Sasikumar Tharmalingam, dass sich dereinst die Kinder um ihre betagten Eltern kümmern werden. Die Realität in der Schweiz sehe allerdings zunehmend anders aus und immer häufiger werde er um Besuche in Alters- und Pflegeheimen gebeten.
Ein Blick in die Altersstrategie 2030 der Stadt Bern bestätigt, dass die hiesige ältere Bevölkerungsschicht keineswegs eine homogene Gruppe darstellt. Alter Stadt Bern, zuständig für die Umsetzung der städtischen Alterspolitik und Verfasserin der Strategie, weist 2020 darauf hin, dass die Zahl der über 65-jährigen Personen mit Migrationsbiografie in den nächsten Jahren überproportional zunehmen werde.
Dies führt zur Fragestellung, die in diesem Beitrag thematisiert werden soll: inwiefern wird in der Stadt Bern eine religionssensible Altersbetreuung angeboten und gewährleistet?
Unter religionssensibel wird hierbei die Rücksichtnahme, Unterstützung und Gewährleistung der individuellen Religionsausübung verstanden. Konkret soll untersucht werden, inwiefern auf Pflege und Unterstützung angewiesene Personen mit nichtchristlichem Hintergrund die Möglichkeit haben, ihre Religiosität auszuleben und religiösen Praktiken auch als Heimbewohner*innen nachzukommen.
Alters- und Pflegeheime der Stadt Bern
Um mehr über die religiösen Profile der Alters- und Pflegeheime in der Stadt Bern herauszufinden, werden die Onlineauftritte von 20 Institutionen daraufhin geprüft, inwiefern individuelle religiöse Bedürfnisse thematisiert werden. Die Auswahl beinhaltet die im Sozialwegweiser 60plus aufgeführten Pflegeheime, wobei Zentren derselben Organisation zusammengestrichen werden.
Eine Minderheit von fünf Altersinstitutionen benennt im Internetauftritt die «individuelle Spiritualität», «kulturelle und spirituelle Wünsche» oder die «religiöse Dimension», welcher man neutral gegenüberstehe, welche man achte und bei deren Wahrung man unterstützend zur Seite stehe. Bei acht Pflegeheimen finden sich im Programm Hinweise auf ausschliesslich christliche Gottesdienste und Besuchsmöglichkeiten durch Pfarrpersonen. Auf den restlichen sieben Webseiten konnten keinerlei Hinweise gefunden werden, die dem Themenbereich Religion oder Religionsvielfalt zugeordnet werden können.
Auf Nachfrage bei Fachpersonen aus drei der grossen bernischen Heimverbände zeigt sich, dass die Frage der kultur- und religionssensiblen Altersbetreuung aktuell und bedeutend ist. So existieren mehrere sogenannte mediterrane Abteilungen oder Hausgemeinschaften. Ziel dieser Abteilungen ist die Wahrung dessen, was als ‘italienisch’ verstanden wird, wie das Verpflegungsangebot und die Sprache. Eine Auskunftsperson erzählt zudem, dass die Frage, ob ähnliche Angebote für beispielsweise tamilische Bewohnende angezeigt wären, gegenwärtig im Team diskutiert wird.
Bedeutend ist auch die Frage von Separation und Durchmischung: soll das übergeordnete Ziel getrennte Abteilungen als Form von Safer Spaces oder doch ein inklusives, durchmischtes Angebot, welches das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse erlaubt, sein? Die Gesprächspartnerin sieht die Zukunft in der durchmischten Wohnform, wobei religionsspezifische Fachpersonen vermittelt und abteilungsübergreifend Gleichgesinnte vernetzt werden sollten.
Die Einschätzung religiöser Experten
Die Idee einer tamilischen Abteilung beschäftigt auch den Hindupriester Tharmalingam. Im persönlichen Gespräch erzählt er von der Begegnung mit einer tamilischen Frau, die in einem bernischen Alters- und Pflegeheim betreut wurde und sich dort vergessen und fremd fühlte. Die Sprachbarriere verhinderte einen tiefgründigen Austausch mit Mitbewohner*innen, das Essen war fremd und die Pflege religiöser Traditionen in der Gemeinschaft war nur noch dank Freiwilligeneinsätzen von Aussenstehenden möglich.
Gerade Personen, die ab 1983 aus Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet sind und oft auf ein Leben geprägt von schweren Schicksalsschlägen und grossen Herausforderungen zurückblicken, so Tharmalingam, hatten oft wenig Kapazität, Möglichkeiten und Unterstützung bei der (sprachlichen) Integration. Für sie kann der Aufenthalt in einer Altersinstitution besonders herausfordernd sein. Um etwas zum Wohlergehen dieser Personen beizutragen, hat sich in Bern die Projektgruppe «Tamilkudil» gebildet. Das Ziel der Gruppe ist die Realisierung einer Wohnbaugenossenschaft für ältere Tamilinnen und Tamilen, in welcher auch der Pflege des immateriellen Kulturerbes genügend Platz eingeräumt wird. Der Projektgruppe schwebt eine durchmischte Wohnform vor: ungefähr 60% der Wohnungen sollen Tamilinnen und Tamilen zur Verfügung stehen, wobei diese nicht zwingend dem Hinduismus angehörig sein müssen. Weiter sollen zwei Drittel der Wohnungen für Personen 60+ und ein Drittel für jüngere Mietende reserviert sein. Diese Durchmischung sei wichtiger Bestandteil der Projektidee.
Abbildung 1: Sasikumar Tharmalingam auf Besuch im Altersheim, SRF «Reporter». Quelle: SRF
Die Frage einer kultur- oder religionsspezifischen Altersabteilung ist für Salji Ibraimi, Imam der Islamischen Gemeinschaft IKRE aus Bern, nicht dringlich. Er erklärt, dass die Altenpflege im muslimischen Kulturkreis üblicherweise durch die Familie gewährleistet wird und dies bis heute auch hier in Bern so gehandhabt werde.
Ebenfalls keinen grossen Handlungsbedarf sieht der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Bern, Jehoschua Ahrens. Dies auch dank dem gewinnbringenden Angebot des Vereins Multireligiöse Begleitung VMRB, auf welches der Rabbiner aufmerksam macht.
Auf kantonaler Ebene, BKRA und VMRB
David Leutwyler, Beauftragter für kirchliche und religiöse Angelegenheiten des Kantons Bern BKRA, nimmt sich ebenfalls Zeit für ein Gespräch. Unter seiner Federführung wurde der Bericht «Multireligiöse Seelsorge in kantonalen Institutionen» zur Prüfung der 2017 eingereichten Motion «Seelsorgeangebote in Gefängnissen, Spitälern und Asylzentren für Angehörige nicht anerkannter Religionsgemeinschaften», welche 2018 als Postulat angenommen wurde, erstellt. Der Bericht zeigt auf, dass die Multireligiöse Seelsorge im Kanton Bern gestärkt werden muss. Es wird argumentiert, dass sich in einer zunehmend pluralistischen Religionslandschaft auch das Seelsorgeangebot, welches sich in öffentlichen Institutionen im Kanton Bern in starker Verflechtung mit den Landeskirchen entwickelt hat, weiterentwickeln muss.
Mit der Gründung des Vereins Multireligiöse Begleitung VMRB wurde ein erster Schritt in diese Richtung unternommen. In einer vom Regierungsrat empfohlenen und zurzeit laufenden Pilotphase (2023-2025) wird der VMRB finanziell unterstützt und eine projektbezogene Zusammenarbeit findet statt. Der Verein bildet seit 2021 ehrenamtliche religiöse und konfessionsfreie Begleitende aus. Ebenfalls 2021 hat die Theologische Fakultät der Universität Bern ihr Seelsorge-Ausbildungsprogramm für nicht-christliche Geistliche geöffnet. Dank solchen Ausbildungen können Mitarbeitende von Altersinstitutionen bei Bedarf qualifizierte Fachpersonen an Heimbewohnende vermitteln und die Arbeit von (religiösen) Begleitpersonen wird offiziell anerkannt.
Auf städtischer Ebene, Alter Stadt Bern
Zum Schluss äussert sich Michael Kirschner, Leiter Alter Stadt Bern, zum Thema. Wie eingangs erwähnt, ist die Abteilung für die Umsetzung der städtischen Alterspolitik zuständig. Sie erarbeitet und evaluiert Massnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen über 60 Jahren, welche in der Stadt Bern rund einen Fünftel der Gesamtbevölkerung – also ca. 30’200 Personen – ausmachen. Aufgrund der erwarteten Zunahme von über 65-jährigen Personen mit Migrationshintergrund sei eine entsprechende Sensibilisierung der Akteur*innen im Gesundheits- und Altersbereich bedeutend.
Abbildung 2: Alterspyramide Stadt Bern. Quelle: Statistik Stadt Bern, 2024
Kirschner unterstreicht, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Schlüsselpersonen für die religions- und kultursensible Altersbetreuung besteht. Gleichwohl soll vermehrt auf eine zielgruppenspezifische Kommunikation geachtet und ein Dialog geführt werden. Es gelte zuzuhören und die spezifischen Wohnbedürfnisse wahrzunehmen. Gefragt, ob separierende oder durchmischte Angebote gefördert werden sollten, plädiert Michael Kirschner für Offenheit und Konstruktivität: unterschiedliche Lösungen und Angebote können wertvoll sein und parallel existieren.
Die durchgeführte Untersuchung und die Gespräche mit Personen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Wohlbefinden von älteren Menschen in der Stadt Bern beschäftigen, haben aufgezeigt, dass die Frage einer religionssensiblen Altersbetreuung von aktueller Bedeutung ist. Es wurde sichtbar, in welchen Bereichen bereits gewinnbringende Schritte unternommen wurden und wo der Thematik noch mehr Sichtbarkeit eingeräumt werden darf. Die Tatsache, dass gegenwärtig auf verschiedenen Ebenen eine respektvolle und innovative Auseinandersetzung mit dem Thema stattfindet, stimmt zuversichtlich, dass bestehende Bedürfnisse wahrgenommen und geachtet werden.
Zur Vertiefung
Verein Multireligiöse Begleitung
Multireligiöse Seelsorge in kantonalen Institutionen
Altersstrategie 2023 (Alter Stadt Bern)
Weiterbildungsangebot der Universität Bern zum Stichwort Seelsorge
Bildquellen
Abb. 2: Statistik Stadt Bern, Bevölkerungsprognosen 2022 bis 2050