10. September 2024
Entstehung und Herausforderungen der Synagoge in Bern
Jüdinnen und Juden standen in der Geschichte vielfach vor Herausforderungen, besonders in Zeiten des erstarkenden Antisemitismus. Welche Herausforderungen waren in Bern im Laufe der Geschichte zu bewältigen und welche sind es noch?
Synje Laudien
Studium der Evangelischen Theologie, 10. Semester
Abbildung 1: Die Synagoge in Bern (Nachweis unten)
Anfänge einer jüdischen Gemeinde in Bern
Den ersten urkundlichen Beleg von Jüdinnen und Juden in Bern finden wir bereits 1259, 68 Jahre nach der Stadtgründung. Vermutlich kamen sie mit vielen anderen Schutzsuchenden in die unter savoyischer Schutzherrschaft stehende Stadt. Obwohl sie sich überall in der Stadt niederlassen durften, galten sie als Fremde und waren damit rechtlos. Teilweise konnten sie sich für eine begrenzte Zeit den Status als Bürger minderen Rechts erkaufen. Ihre Berufswahl war hauptsächlich auf das den Christ*innen untersagte Darlehensgeschäft beschränkt. Dies erwies sich als sehr lukrativ, worauf mit Sondersteuern und – oft zeitlich begrenzter – Rechtsverleihung gegen hohe Summen reagiert wurde.
Verstossungen im Mittelalter
Wenn die Stadt in Geldnot geriet, fand sie in den Jüdinnen und Juden eine willkommene Geldquelle. Beim Tod eines jüdischen Gläubigers verloren sämtliche Pfandrechte und Schuldforderungen ihre Gültigkeit. So wurden die Jüdinnen und Juden ein ums andere Mal ausgeplündert, aus der Stadt verwiesen oder gar hingerichtet. Wo kein Grund war, wurde einer gefunden: 1294 wurde einem Juden unterstellt, er habe in einem Ritualmord den christlichen Jungen Rudolf ermordet. Dieses schon von der Obrigkeit nicht geglaubte Gerücht erhielt sich in der Legende des Märtyrers Rudolf von Bern, der heute nicht mehr verehrt wird. In den Pestjahren 1348-1350 wurde den Jüdinnen und Juden Brunnenvergiftung vorgeworfen. Da die Christ*innen aber dem Zinsverbot unterlagen und das jüdische Geldgeschäft den Handel anregte, wurden sie oftmals unter vorübergehender Verbesserung ihrer Stellung zurück in die Stadt gerufen. So wurde ihnen im «Judenbrief» 1408 gegen hohe Steuern unter anderem Religionsfreiheit zugesprochen. Das bedeutete leider nicht, dass es keinen Judenhass mehr gab. Die Berner Chroniken von Konrad Justinger hetzten gegen die jüdischen Gläubigen. Davon angestachelt verwiesen Schultheiss und Rat 1427 die Jüdinnen und Juden «für ewig» aus Stadt und Land. Dieser Beschluss blieb jahrhundertelang in Kraft, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen: Immer wieder wurden jüdische Ärzt*innen oder Kaufleute in die Stadt gerufen.
Aufklärung und Französische Revolution
Nachhaltige Änderungen erreichten erst die Aufklärung und die Französische Revolution. In einer Diskussion um die Zulassung zum Handel 1772 fiel das Argument, die Jüdinnen und Juden sollten «in heutigen aufgeklärten Zeiten, da der Geist der Intoleranz nicht mehr so wie ehemals herrschet» geduldet werden. Die französische Armee eroberte 1789 die Schweiz, was zu Diskussionen führte, ob die Jüdinnen und Juden wie in Frankreich die Bürgerrechte erhalten sollten. Die Mehrheit stimmte dagegen aus dem Grund, das Judentum sei mehr eine politische als eine religiöse Korporation. Die Schweizer jüdischen Gläubigen wurden als Fremde behandelt, während die jüdischen Gläubigen aus Frankreich Bürgerrechte wie das freie Niederlassungsrecht auch in der Schweiz genossen.
Abbildung 2: Schreiben des Ministers des Innern der helvetischen Republik an Regierungs-Statthalter Basel über gleiches Bürgerrecht für Juden, Jüdisches Museum Schweiz, Foto: Dieter Hofer
Gründung einer Gemeinde
Nachdem den jüdischen Gläubigen 1805 eine Begräbnisstätte und 1807 ein Bethaus verweigert wurde, gelang es 1812 in einem Mietshaus eine Synagoge einzurichten.
Die Verfassung von 1831 brachte die Grundsätze der Gleichheit und Freiheit zur Geltung. Die jüdische Bevölkerung erhielt diese Rechte allerdings erst 1846, als sie um die Aufhebung früherer einschränkender Verordnungen baten. Mit der ersten Bundesverfassung 1848 erlebten sie dagegen einen Rückschlag, da diese die Gleichstellung nur christlichen Konfessionsangehörigen zusprach. Erst die Revision 1866 löschte diese Einschränkung endgültig.
Trotzdem wurde die noch heute bestehende jüdische Gemeinde 1848 von elf israelitischen, elsässischen Juden unter dem Namen «Corporation der Israeliten» gegründet. 1856 wurde ein Haus in der heutigen Genfergasse zur Synagoge geweiht, an deren Feier Bundesrat, Kantonsregierung sowie Kirchenvertreter teilnahmen. Zu dieser Zeit hiess die Gemeinde «Israelitischer Cultusverein Bern». 1867 wurde der Gemeinde der Charakter einer Korporation verliehen. Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die freie Ausübung des Gottesdienstes erhielten alle Schweizer*innen erst 1874. Dabei haben die Jüdinnen und Juden ihre Rechte nicht einfach erhalten. Meist bedurfte es mehrerer Gesuche bei der Stadt.
Die jüdische Gemeinde im 20. Jahrhundert
Die wachsende Gemeinde engagierte sich seitdem in Stadt und Vereinen und machte sich Wohltätigkeit zur Aufgabe. Doch der Antisemitismus war nicht überwunden. Fälle wie die falsche Anklage gegen Alfred Dreyfus schürten den Wunsch nach einem eigenen Land, in dem die Bedrängnis ein Ende hat. Das fand im erstarkenden Zionismus seinen Ausdruck. Um die gemeinsamen Interessen der jüdischen Schweizer*innen wahrzunehmen, bildete sich 1904 aus 13 Gemeinden der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). Aufgrund vieler russischer Einwanderer stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden in Bern stark an. Die Gemeinde sah sich deshalb nach einem Bauplatz für eine neue Synagoge um und weihte diese 1906 ein. Sie wird noch heute von der jüdischen Gemeinde genutzt.
Herausfordernd in dieser Zeit um 1910 waren die Unterschiede zwischen den streng orthodoxen, zionistischen Ostjuden und den Berner Westjuden, die das Judentum zunehmend als Religion, sich selbst aber als Schweizer Volk verstanden. Es kam zur Gründung einer separaten ostjüdischen Gemeinde, die sich erst in den dreissiger Jahren wieder mit der westjüdischen vereinte. Heute ist die Berner Gemeinde eine Einheitsgemeinde, in der die verschiedenen Richtungen ihren Platz finden.
Im zweiten Weltkrieg kümmerte sich die Berner Gemeinde so gut es ging um die geflüchteten Geschwister. Sie setzte sich für eine humane Flüchtlingspolitik ein und wehrte sich vehement gegen antijüdische Hetze.
1948 feierte die Gemeinde ihr 100jähriges Jubiläum sowie die Staatsgründung Israels. Um eine Verwechslung der Begriffe israelitisch (religionsbezogen) und israelisch (staatsbezogen) vorzubeugen, wurde die Gemeinde 1982 in «Jüdische Gemeinde Bern» (JGB) umbenannt.
1996 wurde die JGB öffentlich als Religionsgemeinschaft anerkannt. Die reformierte Kirche verzichtet ihr zugunsten auf eine Pfarrstelle: Der Rabbi der Gemeinde wird seitdem vom Kanton bezahlt.
1836 lebten 124 Jüdinnen und Juden in Bern, heute hat die JGB etwa 390 Mitglieder. Die höchste Mitgliederzahl hatte die Gemeinde mit etwa eintausend Mitgliedern um 1910.
Die aktuelle Gemeinde
Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus schreibt in ihrem Antisemitismusbericht 2023: «Es kann festgestellt werden, dass sich 2023 der Antisemitismus in der Schweiz in der realen Welt wuchtig manifestiert hat.» Sie zählt 2023 155 registrierte Fälle von Antisemitismus, dazu 975 registrierte Online-Fälle.
Die JGB schützt sich mit Sicherheitsvorkehrungen vor der Synagoge. Hier stellt sich die Frage, ob die Schweiz als Sozialstaat oder die Synagoge für die Kosten aufkommen sollte. Die JGB beteiligt sich zudem am Likrat-Projekt der SIG. Dieses bildet jugendliche Jüdinnen und Juden dazu aus, Schulklassen mit dem Judentum in Berührung zu bringen und Vorurteile abzubauen.
Im Leitbild der JGB steht, dass sie «mit Israel als Heimat unserer Religion und Kultur» verbunden ist. Dies lässt den Einzelnen offen, ob sie sich als jüdisch im Sinne einer Religions- oder einer Volkszugehörigkeit verstehen. Der Krieg zwischen Israel und den Hamas trifft die JGB sehr und bringt neue Herausforderungen mit.
Die Herausforderungen änderten sich über die Jahrhunderte im Kern nur wenig. Jüdische Gläubige mussten und müssen sich vor falschen Anschuldigungen in Acht nehmen und um Akzeptanz und Gleichberechtigung in der Gesellschaft kämpfen. Auch wenn sie seit der Gleichstellung im 19. Jahrhundert keiner direkten Vertreibung mehr ausgesetzt waren, so hinterliess der Antisemitismus und die furchtbaren Verbrechen der Nazis auch bei ihnen Spuren. Viele verloren durch die Schoa Freund*innen und Familienmitglieder. Wie der Antisemitismusbericht von 2023 zeigt und sich konkret in den Sicherheitsvorkehrungen der Synagoge ausdrückt, ist die Sicherheit der jüdischen Gläubigen eine fortwährende Herausforderung. Es liegt in der Verantwortung aller Bürger*innen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Jüdinnen und Juden unbesorgt leben können.
Zur Vertiefung und Literatur
Dreifuss, Emil: Juden in Bern. Ein Gang durch die Jahrhunderte. Bern: Verlag Verbandsdruck Bern, 1983.
Festschrift zur Jahrhundertfeier der Israelitischen Kultusgemeinde Bern (1848-1948).
Bloch, René et al. Wie über Wolken : jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200-2000. Zürich: Chronos, 2014.
Jüdische Gemeinde Bern: https://www.jgb.ch/
Antisemitismusbericht der SIG/GRA 2023: https://swissjews.ch/de/downloads/berichte/zusammenfassung-antisemitismusbericht2023
Bildquelle
Abbildung 1: Die Synagoge in Bern. Von Janz – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1678283