15. August 2024
Die evangelische Täufergemeinde (ETG) in Bern
Der Weg einer geschlossenen Gesellschaft zu einer offenen Freikirche
Seit 1903 steht im Mattenhofquartier das Versammlungshaus der Evangelischen Täufergemeinde Bern. Die Freikirche gehört mit 19 Gemeinden zu den kleineren Freikirchen in der Schweiz. Im Kanton Bern gibt es zwei weitere ETG-Gemeinden, in Diessbach bei Büren und «auf dem Giebel» ob Bärau im Emmental. In diesem Beitrag soll die Geschichte dieser Freikirche nachgezeichnet werden. Dabei steht die Frage im Zentrum, welche Aspekte das Entstehen und Weiterexistieren einer solchen Gemeinschaft nötig sind.
Christoph Märki
Theologie im 8. Semester, Bern
Alttäufer und Neutäufer – Alleinstellungsmerkmale
Die Mitglieder der ETG werden auch als Neutäufer und Neutäuferinnen bezeichnet im Gegensatz zu den Mennonitinnen, den Alttäufern. Die Alttäufer sind als «linker Flügel der Reformation» im 16. Jahrhundert in Zürich entstanden. Die Täuferinnen waren der Überzeugung, dass nur diejenigen zur Kirche gehören sollten, welche sich bewusst für die Nachfolge Christi entschieden hatten und bereit waren, ein «christusgemässes» Leben zu führen. Deshalb traten sie für die Erwachsenentaufe ein.
Die Neutäuferinnen dagegen sind im Zuge der Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz entstanden. Die Erweckungsbewegung war eine Reaktion auf rationale und bibelkritische Strömungen in der akademischen Theologie. Diverse Freikirchen in Europa und der Schweiz gehen auf die Erweckungsbewegung zurück, so die Baptisten, die Freie Evangelische Gemeinschaft und andere. Was jedoch die Neutäufer von vielen den erwähnten Freikirchen unterschied: Sie tauften nur Erwachsene und lehnten den Militärdienst ab.
Abbildung 1: Samuel Heinrich Fröhlich
Samuel Heinrich Fröhlich – Pionier und Gründer der ETG
Samuel Heinrich Fröhlich wurde 1803 in Brugg geboren. 1820 bis 1825 studierte er Theologie in Zürich und Basel. In Basel kam er mit der Erweckungsbewegung in Berührung. Sie löste in ihm eine Neuorientierung aus. 1827 wurde er ordiniert. In Leutwil konnte er als Pfarrer einen Kreis von «erwecklichen» Christen und Christinnen um sich scharen. Als der Grosse Rat des Kantons Aargau den «Heidelberger Katechismus» durch ein «rationalistisch» geprägtes Unterweisungsbuch ersetzte, weigerte sich Fröhlich, dies zu verwenden, worauf er seine Stelle verlor. Bereits in seiner Leutwiler Zeit erwachten in Fröhlich Zweifel an der Richtigkeit der Säuglingstaufe. Als er im April 1831 erneut in Leutwil auftauchte und vor dreihundert Leuten predigte, wurde er verhaftet und ausgewiesen. Er kam in Kontakt mit dem Réveil, einer Erweckungsbewegung, die 1814 in Genf entstanden war und in die französisch sprachige Schweiz und Frankreich ausstrahlte. Über den Réveil kam er auch in Kontakt mit der baptistischen «Continental Gesellschaft» in London. Als deren Missionar begann er nun eine Tätigkeit als erwecklicher Reiseprediger.
Zunächst suchte er die Mennoniten und Mennonitinnen in Langnau auf. Es war sein Anliegen, in der Alttäufergemeinde neues Leben anzufachen. Er predigte an verschiedenen Orten und seine Gottesdienste wurden rege besucht. Das erweckte den Argwohn der Behörden, und der Regierungsstatthalter verfügte, dass er innert 24 Stunden das Amt Langnau zu verlassen habe. Vom Herbst 1832 bis zum Sommer 1833 weilte Fröhlich in der Ostschweiz und in England. In seiner Abwesenheit blieb die Gemeinde von Leutwil mit den Alttäufern in Langnau in Kontakt. Aufgrund des Einflusses von Fröhlich und seinen Anhängern in Leutwil kam es in der Alttäufergemeinde in Langnau zu Spannungen zwischen sogenannten Erneurerinnen und konservativen Kräften. Schliesslich trennten sie sich von den Konservativen und feierten nun ihre Gottesdienste auf dem Giebel bei Bärau im Emmental. Fröhlich betrachtete sie als Gemeinde seines Gemeindeverbandes und besuchte sie ab 1836 mehrere Male.
Ab 1833 war Fröhlich als Gemeindegründer im Kanton Zürich und in der Ostschweiz unterwegs. Seine engagierte missionarische Tätigkeit verbunden mit freikirchlichen Gemeindegründungen provozierte fast überall den Widerstand der etablierten Kirchen. 1844 wurde der Gang ins Exil nach Strassburg unausweichlich. In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod 1857 betreute er die Gemeinden in der Schweiz durch ausgedehnte Korrespondenzen und regelmässige Reisen in die Schweiz.
Wie es genau zur Gründung der Gemeinde in Bern kam, ist nicht bekannt. Als Fröhlich im Juni auf dem «Breiten Rain» bei Bern war, fand ein Gottesdienst mit ihm statt. Im August 1852, im Juli 1854 und im August 1856 bezeugen die Quellen einen Besuch Fröhlichs bei der Gemeinde in Bern. Beim letzten Besuch predigte er in einem neuen Versammlungssaal, der 500 Plätze hatte und bei seinem Besuch überfüllt war.
Die Theologie Fröhlichs – Verknüpfung von reformatorischen Grundhaltungen und strenger Gemeindedisziplin
«Allein die Schrift, allein Christus, allein durch Gnade, allein durch Glaube.» Die Eckpfeiler der reformatorischen Theologie waren für ihn die Grundlage. Er engagierte sich für ein erweckliches Christentum im Umfeld einer Volkskirche, die er als geistlich tot wahrnahm. Gleichzeitig kämpfte er für mehr Liberalisierung in Bezug auf Kirche und Staat, das heisst für Glaubensfreiheit und Versammlungsfreiheit und auch für eine kirchenunabhängige zivile Trauung. Im Wesentlichen verstand sich Fröhlich als Täufer. Von den Anfängen an nannte Fröhlich seine Erweckungskreise «Gemeinschaft der Taufgesinnten». Schliesslich bürgerte sich der Name «Gemeinschaft Evangelisch Taufgesinnter» ein, der bis in die 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts gebräuchlich war.
Abbildung 2: Das Gebäude der ETG Bern im Mattenhofquartier (Foto: Christoph Märki)
Charakteristisch für ihn ist sein Taufverständnis, das er 1847 in einer Schrift darlegte. Getauft sollen nur die werden, die Busse getan, sich bekehrt haben und glauben. Für solche Menschen habe die Taufe eine Wirkung. Sie schafft die Ausrottung der Sünde und bewirkt die Wiedergeburt zu einem neuen Leben. Glaube ohne Taufe ist für ihn ebenso wertlos wie Taufe ohne Glaube. Auf den Getauften lastet ein grosser Erwartungsdruck, nicht mehr zu sündigen. Immer mehr trat sein Anliegen hervor, eine reine Gemeinde zu schaffen und zu bewahren. Seinen Gemeinden auferlegte er eine rigide Gemeindedisziplin: Wenn ein Gemeindeglied durch seinen Lebenswandel Anstoss erregt, muss es ermahnt werden. Wenn es sich danach nicht ändert, muss es für kürzere oder längere Zeit aus der Gemeinde und vom Abendmahl ausgeschlossen werden. Wenn auch dann keine Änderung eintritt, ist es für immer aus der Gemeinde auszuschliessen.
Die Sorge um die Schaffung der «reinen» Gemeinde führte Fröhlich in die Separation und Isolation. Nur durch Absonderung von allen andern schien es ihm möglich, die reine Gemeinde zu sichern. Damit verankerte er in seinen Gemeinden eine starke Tendenz zum Perfektionismus, zur Gesetzlichkeit und zum Separatismus. Erst nach dem 2. Weltkrieg konnten sich die ETG- Gemeinden von diesem belastenden Erbe Fröhlichs befreien.
Aufbruch nach dem 2. Weltkrieg – Öffnung und Ausbildung
Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts blieb auch der fortschrittliche Zweig der Taufgesinnten, der sich später ETG nannte, eine geschlossene Gemeinschaft. Es bestanden kaum Kontakte zu anderen Freikirchen und christlichen Werken. Eine theologische Ausbildung der sogenannten Lehrbrüder und Ältesten gab es nicht.
Die Hilfeleistungen nach dem 2. Weltkrieg lösten aber die starren Fronten auf. Bereits 1946 wurden mit den Mennoniten zusammen Hilfstransporte ins Elsass und nach Deutschland organisiert. Ebenfalls arbeiteten Alttäufer und Neutäufer zusammen, als für Geflüchtete aus Osteuropa eine Siedlung bei Salzburg gebaut wurde. Im Jahre 1949 wurden erstmals Ferienwochen für Jugendliche im Sommer organisiert. Nachdem diese Jugendlager jedes Jahr an verschiedenen Orten stattfanden, konnte 1961 in Wilderswil eine eigene Heimstätte gekauft werden. Wichtige Anstösse zur Öffnung der Gemeinden gingen von diesen Jugendlagern aus. In den Nachkriegsjahren nahmen einzelne Gemeindeglieder zu verschiedenen evangelikalen Missionswerken und Bibelschulen Kontakt auf. Von da her floss neues Gedankengut in die angestammten Gemeinden. Von Anfang an gab es nur «Laien», welche predigten und die Gemeinde leiteten. Vollzeitlich Mitarbeitende wurden nicht angestellt. Auch das änderte sich ab den Fünfzigerjahren. Laienprediger wurden geschult und fest angestellte Mitarbeiterinnen mussten über eine theologische Grundausbildung verfügen. Das ursprünglich mennonitische Seminar auf dem Bienenberg entwickelte sich zu einem wichtigen Ort der Begegnung der beiden täuferischen Gruppen. Heute haben Alttäufer und Neutäufer auf dem Bienenberg ihre gemeinsame Ausbildungsstätte. 1990 schlossen sich die ETG-Gemeinden dem «Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinschaften» an. 1994 trat die ETG-Gemeinde Mattenhof der Schweizerischen Evangelischen Allianz bei. Schon seit 1909 betreiben sie zudem ein Altersheim, welches heute unmittelbar neben dem Gemeindelokal gelegen ist.
Abbildung 3: Das Alterszentrum Mattenhof gehört zur ETG Bern (Foto: Christoph Märki)
Wichtigkeit von seriöser theologischer Arbeit
Die schweizerischen ETG-Gemeinden haben seit den Anfängen mit Fröhlich bis heute einen langen Weg zurückgelegt: von einer geschlossenen Gesellschaft zu einer aktiven, offenen evangelischen Freikirche.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Falle der ETG Bern diverse Aspekte eine Rolle gespielt haben, die zur Gründung und zum Weiterbestehen der Gemeinde geführt haben. Am Anfang stand erstens die Unzufriedenheit mit der bibelkritischen Strömung in der Theologie und der theologischen Überzeugung, dass die Taufe für Kleinkinder theologisch nicht zu rechtfertigen sei. Bei der ETG war es zweitens die Initiative und das Charisma des Pfarrers Samuel Heinrich Fröhlich, das zur Entstehung entscheidend beigetragen hat. Drittens konnte gezeigt werden, dass auch Alleinstellungsmerkmale wie z.B. die Wehrdienstverweigerung, die verbotene Kleinkindertaufe oder das Einhalten rigider Regeln dazu führen, dass eine Kirche Profil gewinnt – auch wenn das negative Konsequenzen haben kann. Viertens scheint aber vor allem das soziale Engagement, die Öffnung und Lockerung der Gemeinderegeln und die Bedeutungszunahme der Ausbildung in Leitungspositionen der ETG geholfen zu haben, dass es diese Gemeinde immer noch gibt. Die anhaltende Reflexion und Diskussion über theologische Positionen und deren praktischen Umsetzungen scheinen deshalb auch in Zukunft unerlässlich zu sein.
Zur Vertiefung
Geschichtstafel «Leben und Werk von Samuel Heinrich Fröhlich»
Geschichtstafel «Die Geschichte der Evangelischen Täufergemeinde in Bern von der Gründung bis heute»
Literatur
Dellsperger, R. & Lavater, H.R. Die Wahrheit ist untödlich. Berner Täufer in Geschichte und Gegenwart. Bern 2007.
Garfield, A. Die Tauf- und Kirchenfrage in Leben und Lehre des Samuel Heinrich Fröhlich: Gründer der Gemeinschaft Evangelisch-Taufgesinnter. Bern 1976.
Ott, B. Missionarische Gemeinden werden. Der Weg der Evangelischen Täufergemeinden. Uster 1996.
Bildquelle Abbildung 1: ETG Bern (https://etg-bern.ch/geschichte)