15. August 2024
Der Hindu-Tempel in Bern: Was ihn so besonders macht
Im Haus der Religionen in Bern befindet sich ein hinduistischer Tempel, der vom Verein Saivanerikoodam betrieben wird. Der Tempel ist für hinduistische Tamil:innen in der Schweiz ein zentraler Ort, an dem sie sich treffen und ihre Religion ausüben können. Er dient auch als Ort für interreligiösen Dialog. Besonders am Verein Saivanerikoodam ist, dass er sich als reformiert bezeichnet. Beispielsweise wird besonderer Wert auf die Gleichstellung der Geschlechter und auf soziale Gerechtigkeit gelegt. Aber wie unterscheidet sich dieser reformierte Tempel explizit von anderen traditionellen hinduistischen Tempeln in der Schweiz?
Aginsha Mohanathas
Master Sekundarstufe 1, PH Bern
Tamilische Hindus in der Schweiz
«Den Hinduismus» gibt es eigentlich nicht. Der Begriff ist eine Fremdbezeichnung der Briten aus dem 19. Jahrhundert. Je nach Ort oder Land wird der Hinduismus anders praktiziert. Die tamilischen Hindus aus Sri Lanka gehören hauptsächlich zur Richtung des «Shivaismus», was bedeutet, dass sie in erster Linie Shiva verehren. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass sie auch andere Götter verehren. Seit den späten 70er Jahren verliessen die tamilischen Männer ihr Heimatland Sri Lanka aufgrund des Konflikts zwischen der singhalesischen Mehrheit und der tamilischen Minderheit.
In der Schweiz leben die tamilischen Hindus seit den 80er Jahren. Ende 2005 lag die Zahl der tamilischen Hindus zwischen 30.000 und 34.000 Personen. Der grösste Teil der tamilischen Hindus in der Schweiz lebt in Grossstädten wie Bern und Zürich. Schon im Jahr 1984 gab es Quartiertreffpunkte in Bern, an denen sich tamilische Hindus versammelten. In den 90er Jahren kamen mehr Frauen und Kinder der tamilischen Männer in die Schweiz, was einer der Gründe war, weshalb Tempel eröffnet wurden. Diese Tempel befanden sich meist in Industriegebieten, die stadtfern waren.
Geschichte zur Bildung des Vereins Saivanerikoodam
Ab 1994 haben sich fünf junge tamilische, hinduistische Männer zusammengeschlossen und sich zehn Jahre lang über bestimmte Fragen im Hinduismus Gedanken gemacht. Einer von ihnen ist der Priester Sasikumar Tharmalingam, der heute im Shiva-Tempel «Arulgnanamigu Gnanalingesurar Tempel» im Haus der Religionen in Bern arbeitet. Die fünf Männer unternahmen zwölf Pilgerreisen in verschiedene Teile Indiens, studierten zahlreiche Literaturen und die heiligen Schriften. Sie beschäftigten sich mit Fragen wie: Müssen die Priester aus der höchsten Kaste stammen? Müssen die Gebete in Sanskrit durchgeführt werden? Wer darf religiöse Rituale durchführen?
Auf ihren Reisen und in Befragungen der Priester in Indien erhielten sie meist die gleichen Antworten: «Unsere Vorfahren haben das so gemacht». Durch ihre Recherchen und Reisen kamen sie zu dem Schluss, dass in den heiligen Schriften weder das Kastensystem noch die Vorschrift, dass nur Männer aus den höchsten Kasten Priester sein dürfen, erwähnt werden. Ebenso wenig fanden sie Hinweise darauf, dass die Rituale und Gebete in Sanskrit durchgeführt werden müssen. So beschloss die Gruppe, dass für sie die heiligen Schriften eine zentrale Bedeutung haben, und gründete im Jahr 2007 ihren eigenen reformierten Tempel in Bern.
Sasikumar Tharmalingam ist selbst kein Brahmane, also nicht aus der höchsten Kaste, und hat seine Ausbildung zum Priester in Indien absolviert. Da in den heiligen Schriften nichts davon steht, dass nur Brahmanen Priester sein können, konnte er in Indien eine Brahmanerschule besuchen, bei einem Priester, der selbst Brahmane ist, aber die Zulassungsbedingungen für Priester lockert. Der Leitsatz des Vereins lautet: «Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren, auch vor den Augen Gottes sind wir alle gleich. Die ganze Welt ist eine einzige Familie, jeder Mensch ist bei uns willkommen».
Abbildung 1: Arulgnanamigu Gnanalingesurar Tempel, Haus der Religionen (Foto von Aginsha Mohanathas)
2015 wurde dieser Tempel ins Haus der Religionen am Europaplatz in Bern verlegt. Der Verein hat noch drei weitere reformierte Tempel in Sri Lanka, in England und im Wallis.
Arulgnanamigu Gnanalingesurar Tempel
Der Arulgnanamigu Gnanalingesurar Tempel im Haus der Religionen in Bern ist ein reformierter Tempel. Der Tempel ist täglich von 9:00 bis 20:30 Uhr geöffnet. Die Gebete finden täglich von 19:00 bis 20:30 Uhr statt. An besonderen Festtagen ist der Tempel ebenfalls geöffnet, und es werden häufiger Gebete abgehalten. Der Tempel ist für alle zugänglich, es sind jedoch einige Regeln zu beachten wie zum Beispiel, Schuhe ausziehen, keine Kappen oder Hüte tragen, kein Fleisch mitbringen, den Tempel nicht nach dem Konsum von Alkohol betreten, die Figuren nicht berühren und den Altar nur für das Gebet betreten.
Die Mehrheit der Besucher sind lactovegetarische, friedliche Hindus der Richtung Shivaismus. Der Tempel ist der Gottheit Shiva gewidmet, und der Altar von Shiva befindet sich in der Mitte des Tempels.
Der Tempel ist zweistöckig aufgebaut: Im Erdgeschoss befindet sich der Tempel, und im ersten Stock gibt es einen Festsaal, der für private Feiern sowie für das Essen nach dem Gebet genutzt wird.
Abbildung 2: Arulgnanamigu Gnanalingesurar Tempel von innen (Foto von Aginsha Mohanathas)
Vergleich: Traditionelle Praktiken und Praktiken der reformierten Tempel
Die Hauptunterschiede zwischen den reformierten Tempeln und dem traditionellen Tempel in Bern sind die Sprache der Gebete, die Abschaffung des Kastensystems, das Betreten der Altäre und die Einbeziehung von Frauen als Priesterinnen. Frauen als Hindupriesterinnen gab es weltweit noch nicht. Aber der Verein Saivanerikoodam und ihr Priester Sasikumar Tharmalingam haben dies umgesetzt. Sie haben beim Studium der heiligen Schriften keinerlei Hinweise gefunden, dass nur brahmanische Männer Priester sein dürfen. So wurden vier Frauen durch die Hindu-Priester in Bern und einen Professor aus Indien ausgebildet und im Jahr 2015 zu Priesterinnen geweiht. Sasikumar Tharmalingam ist sich bewusst, dass diese Nachricht nicht überall auf Freude stiess. Trotz der Kontroversen, die diese Reform auslöste, sieht Tharmalingam die Einbeziehung von Frauen als Priesterinnen als einen wichtigen Schritt in Richtung Gleichberechtigung und Moderne im Hinduismus.
In der orthodoxen vedischen Religion der Brahmanen haben Frauen eine untergeordnete Stellung. Das Studium der heiligen Texte war für Frauen verboten, obwohl es im Hinduismus viele Göttinnen gibt, die Stärke vermitteln. Durch Traditionen und Weitergabe des Wissens war es Frauen nicht erlaubt, Priesterinnen zu sein.
In einem SRF-Podcast teilt der Luzerner Priester Sasitareen Sarma, der in seinem Tempel traditionelle Praktiken durchführt, seine Meinung zur Umwandlung der Praktiken in Bern mit. Für ihn ist die Umwandlung kein Problem. Auch in Sri Lanka gibt es Tempel, in denen Gebete auf Tamilisch durchgeführt werden oder Priester, die nicht aus der höchsten Kaste stammen. Für ihn überraschend ist, dass Frauen nun auch Priesterinnen sein können, da er dies zuvor nicht kannte. Die Gebete führt er auf Sanskrit durch, da es für ihn nicht nur eine Sprache ist, sondern auch eine spirituelle Bedeutung hat. Es ist ein Klang, der Kraft gibt. Das Betreten des Altars im reformierten Tempel ist in seinem Tempel nicht erlaubt, da er der Meinung ist, dass Personen, die nicht ihr Leben lang vegetarisch gelebt haben, die Statuen nicht berühren sollten, denn ansonsten geht die Reinheit der Statuen verloren. Der Luzerner Priester betont, dass seine Praktiken tief in der Tradition verwurzelt sind und er grossen Wert auf die Reinheit und Authentizität der Rituale legt.
Schlussfolgerungen
Das Projekt der fünf hinduistischen Tamilen war ein langer und gewagter Prozess. Obwohl sie zu Beginn nicht viel Unterstützung erhielten, konnten sie nach mehr als 10 Jahren ihr Ziel erreichen. Heute haben sie viele Besucher, die sich dem reformierten Hinduismus zugehörig fühlen. Die Unterschiede zu den traditionellen Praktiken sind deutlich gross, was nicht alle gutheissen, dennoch ist durch die Überlegungen und die Handhabung des Tempels die Reformation gut erkennbar. Die Reformbewegung fördert eine moderne Interpretation der Religion und versucht, Brücken zwischen Tradition und zeitgenössischen Ansichten zu schlagen. Ihr Erfolg zeigt, dass Veränderung in tief verwurzelten kulturellen Praktiken möglich ist.
Zur Vertiefung
SRF, Berner Hindus öffnen sich
Ref.ch: Bern: Die ersten vier Hindu-Priesterinnen erhielten die Weihe
Literatur
Baumann, Martin; Stolz Jörg (2007): Eine Schweiz-viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens. Transcript Verlag: Bielefeld.