09. Januar 2023
Friedliche Stille?
Wie viel Platz hat die Vielfalt an Weltanschauungen, religiösen oder spirituellen Ausrichtungen und Praktiken in einem säkularen Kontext? Und inwiefern könnte die Schaffung eines solchen Raums dialog- und friedensfördernd sein?
Das studentische Projekt des Raums der Stille an der Universität Bern bietet mögliche Antworten auf diese Fragen.
Zoë Beer (sie/ihr) – Master Interreligiöse Studien, Bern
Eingangsbereich des Raums der Stille an der Universität Bern (Foto von Zoë Beer).
Seit knapp einem Jahr existiert dieser religiös plurale Raum im Untergeschoss der Unitobler in der Länggasse. Der Prozess, welcher der Umsetzung des Raums voranging, war ein langer. Begleitet hat ihn vor allem die Frage, ob ein religiös-spirituell konnotierter Raum an der säkularen Institution Universität Platz haben soll.
Solche Räume der Stille – auch inter- oder multireligiöse Räume, Häuser der Religionen, im Englischen multifaith-spaces genannt – sind mittlerweile international an den verschiedensten Orten anzutreffen: An Flughäfen, Friedhöfen, Gefängnissen, Spitälern oder Universitäten. In der Schweiz gibt es an den meisten Hochschulen bereits einen solchen Raum, an der Uni Bern kam die Initiative dafür zuerst von der Muslim Students and Alumni Association (MSAB). Vor viereinhalb Jahren vernetzten sich deren Mitglieder mit weiteren Gruppierungen, um dem Anliegen von Studierenden und Mitarbeitenden verschiedener religiöser Traditionen, einen Ort für die alltägliche Glaubenspraxis zu haben, Gehör zu verschaffen. Heute besteht die hauptsächlich ehrenamtlich engagierte Träger_innenschaft zusätzlich aus Vertreter_innen des Vereins jüdischer Studierender (Jewish Youth of Bern), der christlichen Hochschulgruppe (VBG), der katholischen Hochschulseelsorge (aki), der reformierten Hochschulseelsorge (Forum3), der Fachschaft Theologie und Interreligiöse Studien sowie der Studierendenschaft der Uni Bern (SUB), mit dem Fokus Diversität und Gleichstellung. Das gemeinsame, immer wieder verwendete Argument für den Raum der Stille ist, dass Vielfalt sich nicht nur auf Gender, Hautfarbe oder Lebenssituationen beschränke, sondern auch eine religiöse und spirituelle sei, die an der Uni ebenso geschätzt und gefördert werden solle. Auch der Raum selbst folgt diesem Prinzip: Er ist offen für alle Personen und verschiedenste Aktivitäten – für eine Einkehr, Meditation, ein Gebet, einen Moment der Ruhe im hektischen Alltag oder eine Yogaübung auf dem flauschigen Teppich. Im Raum der Stille soll die «Stille praktiziert werden», wie Jil Kiener, mit der ich ein Gespräch führen durfte, diese verschiedensten Praktiken möglichst «religionsunabhängig» zusammenzufassen versucht – egal, wie sich das für einzelne Personen äussere.
Die Tür zum Raum der Stille (Foto von Zoë Beer).
Damit diese Momente der Stille entstehen können gibt es einige Regeln, so ist es beispielsweise nicht erlaubt im Raum zu essen, schlafen, elektronische Geräte zu benutzen oder Strassenschuhe zu tragen. Der Raum wird nicht nur individuell, sondern auch für Veranstaltungen oder zu bestimmten Zeiten als Gruppe genutzt. So zum Beispiel für eine geführte Kontemplation, ein gemeinsames Morgengebet oder im Frühling 2022 für die «Zeit zum Schweigen», welche von Studierenden der Fakultät der Theologie ins Leben gerufen wurde, um ein Zeichen zu setzen und Anteil an dem Leid in der Ukraine zu nehmen.
Aber was ist «Stille» eigentlich und weswegen heisst der Raum so?
Das Konzept des Raums der Stille
Jil Kiener, die Interreligiöse Studien studiert hat, Koordinatorin des Projekts ist und innerhalb des Teams keine religiöse oder spirituelle Tradition vertritt, erzählt:
«Den Begriff ‹Raum der Stille› haben wir gewählt, weil er am wenigsten Konnotationen zu einer bestimmten Religion mit sich bringt und eine gewisse Breite an potentiellen Nutzungsformen offenlässt.»
Tatsächlich folgen viele überkonfessionelle, interreligiöse oder spirituelle Räume dem Ideal eines häufig weissen, minimalistischen und dadurch ruhigen Raumes. Dementsprechend hat sich die Bezeichnung «Raum der Stille» oft durchgesetzt – ein prominentes frühes Beispiel ist der «Room of Quiet» im Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York im Jahr 1957. Allerdings wurden seither eine Vielzahl an Konzepten entwickelt, wie die Räume gestaltet werden können und welche Faktoren zum Gelingen beitragen oder wie Konflikte um unterschiedliche Nutzungsvorstellungen möglichst umgangen werden können. Denn «still» ist es weder um die Entstehung solcher Räume noch immer zwingend innerhalb der Räume selbst.
Nach der Theologin Susanne Gillmayr-Bucher beinhaltet die Entstehung von Räumen drei Aspekte: Sie werden geschaffen von Menschen, die sie nutzen oder sich aneignen, sie werden konzipiert, also gestaltet für die alltägliche Nutzung, und sie werden erlebt, wahrgenommen und mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen verknüpft. Das Konzept für den Raum B-105 hat die Träger_innenschaft zusammen mit einer Architektin ausgearbeitet. Bei der Gestaltung war vor allem die Wahl der Farben zentral, um eine Atmosphäre der Stille zu schaffen, in der sich Personen mit unterschiedlichen Religions-Zugehörigkeiten wohlfühlen können. Jil betont, dass der Raum tendenziell eher nicht als «heiliger» oder «sakraler» Raum gelten solle. Wie dies allerdings von Nutzer_innen erlebt wird, sei eine andere Frage – aktuell führt die Träger_innenschaft eine Umfrage durch, um zu erheben, wer den Raum wann, wie und wieso nutzt. Hier geht es zur Umfrage.
Wie bei vielen Räumen der Stille generiert nach wie vor die Frage nach Symbolik am meisten Diskussionsstoff. Die Träger_innenschaft hält an ihrem Konzept fest, dass sie weder einen symbolfreien und damit «neutralen» Raum, noch einen mit einzelnen religiös konnotierten Ecken und Nischen will. Hingegen sollen verschiedene Hinweise auf die unterschiedlichen Traditionen nebeneinander Platz finden können. Die Konsensfindung zu möglichen, sinnbildlichen Gegenständen im Raum erweist sich jedoch als herausfordernd und zeitintensiv, weswegen der Raum vorläufig eher neutral anmutet – vom «Teppichbereich» aus sind keine religiösen Symbole sichtbar. Schnell zu einem Konsens kam es hingegen bei Büchern: Aufgestellt sind im Eingangsbereich verschiedene Bibelversionen, ein Buch zu jüdischer Ethik und der Koran in deutscher und französischer Übersetzung. Weitere Gegenstände, die von Nutzer_innen mitgebracht oder gebraucht werden, wie zum Beispiel eine Ikone für die christliche Kontemplation, müssen jeweils wieder weggeräumt werden. Der Raum soll grundsätzlich dynamisch sein und die verschiedenen Bedürfnisse sollen immer wieder neu ausgehandelt werden dürfen. So befinden sich auch aktuell viele Ideen, um die Vielfalt symbolisch zum Ausdruck zu bringen, noch in der Umsetzungsphase und es gibt offene «Baustellen». Beispiele sind die Anbringung von Zitaten aus unterschiedlichen religiösen oder philosophischen Traditionen an einer Wand im Eingangsbereich oder die Frage nach Vertretungen: Eine christliche Übervertretung und das Fehlen von nicht-monotheistischen Religionen, sowie von Vertreter_innen aus Religionen aus dem asiatischen Raum wie Buddhismus, Hinduismus, Sikhismus und Weiteren sind alles andere als ideal. Obwohl laut den bisherigen Erhebungen Menschen dieser religiösen Traditionen den Raum nutzen, erweist sich die Suche nach Vertreter_innen als schwierig – im Austausch befindet sich das Team unter anderem mit dem Haus der Religionen – Dialog der Kulturen, beispielsweise mit Sasikumar Tharmalingam, dem hinduistischen Priester.
Abbildung 3: Zitate aus verschiedenen religiösen oder philosophischen Traditionen, die an die Wand kommen könnten (Foto von Zoë Beer).
Dialog und Begegnung
Der Raum ist zwar der Fokus des Projekts, steht aber nicht für sich: Um den Raum herum soll sich ein Dialog entwickeln dürfen, der das gegenseitige Verständnis im universitären Alltag fördert. Jil Kiener, die im Team die Kommunikation zwischen allen beteiligten Personen übernimmt, sieht zwar die vielen Gespräche mit den Vertreter_innen oder mit Personen aus dem säkularen Bereich als dialogfördernde Arbeit, verzichtet aber darauf, das Projekt selbst mit «grossen Wörtern» wie «Friedensarbeit» zu beschreiben. Wichtig seien vor allem Gespräche und das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels. Ihre Aufgabe im Team besteht für sie indes vor allem darin, zuzuhören, zu schauen, dass alle zu Wort kommen, und zu vermitteln. Entscheidungen werden dabei mittels Konsensverfahren getroffen, das heisst, erst, wenn es für alle stimmt, wird ein Beschluss gefasst. Schlichten musste sie noch nie – was vermutlich auch daran liege, dass sie alle das gleiche Ziel verfolgen. Sie sagt:
«Wenn du gemeinsam die Vorhänge aufhängen willst und es klappt einfach nicht, sind plötzlich die religiösen, ethnischen oder nationalen Grenzen nicht mehr so relevant.»
Und wenn die Gruppe dann später zusammen zu Abend isst, entstehe der Dialog aus ganz praktischen Anlässen, beispielsweise als die Frage aufkam, ob ein Wein geöffnet werden darf, wenn eine muslimische Person am Tisch sitzt, und diese antwortet: «Für mich schon, für andere nicht». In diesem Moment, so Jil, beginne es, spannend zu werden.
Abbildung 4: Gemeinsames Abendessen im Raum des Forum3 (Foto erhalten von Jil Kiener).
Seit der Raum existiert, sind die kritischen Stimmen leiser geworden, sagt Jil. Das Projekt scheint bis jetzt gut zu funktionieren und sich stetig weiterzuentwickeln, sowie nach und nach mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Trotz seiner eher marginalen Position im Untergeschoss der Uni, vermag es dieser kleine Platz also, ein wichtiges Bedürfnis zu decken und neue, friedliche Formen des Mit- oder Nebeneinanders im Uni-Alltag zu schaffen.
Zur Vertiefung
Raum der Stille. Studierendenschaft der Universität Bern
Literatur
Erne, Thomas, Noss, Peter & Bracht, Christian (Hg.) 2016: Open Spaces. Räume religiöser und spiritueller Vielfalt. Kromsdorf/Weimar: Jonas Verlag.
Gillmayr-Bucher, Susanne 2022: Raum schaffen. Welt und Umwelt der Bibel. Band 103: 52–53.
Beinhauer-Köhler, Bärbel, Roth, Mirko & Schwarz-Boenneke, Bernadette (Hg.) 2015: Viele Religionen – ein Raum?! Analysen, Diskussionen und Konzepte. Berlin: Frank & Timme.
Kraft, Sabine 2007: Räume der Stille. Marburg: Jonas Verlag.
Stückelberger, Johannes 2012: Multireligiöse Gebetsräume als gestalterische Herausforderung. In: Berlis, Angela, Plüss, David & Walti, Christian (Hg.): GottesdienstKunst. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 139–152.